Rebecca Vollmer, Dr. Wolfgang Dunkel
1. Regelungen zur Verweisung
Rz. 164
Nach § 172 Abs. 3 VVG kann als weitere Voraussetzung einer Leistungspflicht des Versicherers vereinbart werden, dass die versicherte Person auch keine andere Tätigkeit ausübt oder ausüben kann, die zu übernehmen sie aufgrund ihrer Ausbildung und Fähigkeiten in der Lage ist und die ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht.
Das Recht des Versicherers zur Verweisung der versicherten Person ist gegenüber der Prüfung der Berufsunfähigkeit im zuletzt ausgeübten Beruf in der Prüfungsreihenfolge nachrangig. Erst wenn geklärt wurde, wie die letzte Berufsausübung des Versicherten beschaffen war, kann geprüft werden, ob nicht evtl. ein Recht des Versicherers zur Verweisung gegeben ist; dies ist also zweite Voraussetzung seiner Leistungspflicht.
Rz. 165
Zu unterscheiden sind Klauseln mit einer sog. konkreten und einer sog. abstrakten Verweisungsmöglichkeit. Eine konkrete Verweisung bedeutet, dass der Versicherte dann auf eine Ersatztätigkeit verwiesen werden kann, wenn er tatsächlich eine vergleichbare und zumutbare Tätigkeit ausübt. Eine abstrakte Verweisung liegt dann vor, wenn der Versicherte auf eine Tätigkeit verwiesen werden darf, die er aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung lediglich (potenziell) ausüben könnte, und die seiner Lebensstellung entspricht.
§ 2 Abs. 1 MB BUV/BUZ 22 geht zunächst von der konkreten Verweisungsmöglichkeit aus und schlägt in der Bemerkung (1) alternativ eine abstrakte Verweisung vor. Es gibt inzwischen allerdings Bedingungswerke, in denen auf die Verweisung vollständig verzichtet wird. Die meisten Versicherer stützen sich jedoch nach wie vor auf eine Verweisungsmöglichkeit, die teilweise von verschiedenen Umständen abhängig ist, etwa vom Lebensalter und von der Art der Tätigkeit. Die Umorganisation bei Selbstständigen wird ebenso regelmäßig genannt (auch wenn dies strenggenommen keine Verweisung darstellt, vgl. Rdn 99 ff.). Die Musterbedingungen 2022 weisen in einer Fußnote ebenfalls auf diese Möglichkeit hin.
Rz. 166
Eine Vergleichstätigkeit liegt allgemein gesprochen dann vor, wenn die neue Erwerbstätigkeit keine deutlich geringeren Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert und in ihrer Vergütung sowie in ihrer sozialen Wertschätzung nicht spürbar unter das Niveau des bislang ausgeübten Berufs absinkt.
Beispiel
So darf etwa eine gelernte Zahnarzthelferin, die zwischenzeitlich als Verkäuferin und zuletzt als selbstständige Einzelhändlerin tätig war, nicht auf eine ungelernte oder angelernte Tätigkeit in Büro, Verwaltung und Empfang bzw. als Pförtnerin verwiesen werden, da diese Tätigkeiten die Versicherte nach ihren Kenntnissen- und Erfahrungen unterfordern und daher keine Vergleichsberufe sind.
Da die Berufsausübung vor Eintritt des Versicherungsfalles den Vergleichsmaßstab dafür liefert, ob die neue Tätigkeit der bisherigen Lebensstellung entspricht, muss vorab durch den Versicherten vorgetragen und ggf. nachgewiesen werden, wie diese konkret ausgestaltet war, welche Anforderungen sie an den Versicherten stellte, welche Fähigkeiten sie voraussetzte, welches Einkommen sie ihm sicherte und wie sich seine beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten real darstellten (siehe hierzu Rdn 18, 70 ff.). Der Bezugspunkt ist daher stets der zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte Beruf, welcher die Lebensstellung des Versicherungsnehmers geprägt hat, welche wiederum Maßstab dafür ist, welche Vergleichsberufe in Betracht kommen.
Rz. 167
Es hat bei Beurteilung der Zumutbarkeit einer Verweisung im Hinblick auf die "Lebensstellung" des Versicherten stets eine wertende Gesamtbetrachtung stattzufinden. Einzubeziehen sind in die Abwägung sowohl Verdienstmöglichkeiten, wie auch die Arbeitsbedingungen als solche und schließlich das soziale Ansehen der Tätigkeit. So kann etwa ein geringeres Ansehen einer Tätigkeit in der Öffentlichkeit bei erheblich höherem Verdienst eine Verweisung gleichwohl zumutbar machen. Allerdings sind in der Regel Ansehen und Verdienstmöglichkeiten eines Berufs in der öffentlichen Wahrnehmung verzahnt. Es hat eine Abwägung stattzufinden: Geld allein ist nicht alles, aber eine "schöne Tätigkeit" allein ist es auch nicht. Je angesehener ein Beruf ist, desto weniger spielen geringfügige Unterschiede im Verdienst, im Vergleich zur vormaligen Tätigkeit, eine Rolle. Verdient man andererseits mit einem höher angesehenen Beruf deutlich weniger, so schlägt die Wertung regelmäßig in Richtung des wirtschaftlich auskömmlichen Berufs aus.
Beispiel
Der zuletzt im ländlichen Bereich bei geringem Verdienst als Hufbeschlagschmied selbstständig tätige Versicherte war in der Vergangenheit auch als Maschinenführer in einer Biogasanlage beschäftigt und verfügte über eine Ausbildung als Landmaschinenmechaniker. Er hat sich auf eine viel höher bezahlte angestellte Maschinenführertätigkeit in der Landwirtschaft verweisen zu lassen, auch wenn diese ein geringes Prestige hat, als die eines selbstständigen Hufschmieds.
Rz. 168
Subjektive Vorlieben des Versiche...