Rebecca Vollmer, Dr. Wolfgang Dunkel
1. Überblick
Rz. 175
Ein Vergleichsberuf, auf den durch den Versicherer verwiesen werden darf, liegt grundsätzlich dann vor, wenn die aufgezeigte Erwerbstätigkeit keine deutlich geringeren Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert und auch in ihrer Vergütung wie in ihrer Wertschätzung nicht spürbar unter das Niveau des bislang ausgeübten Berufs absinkt. Die Lebensstellung des Versicherten wird also von der Qualifikation seiner Erwerbstätigkeit bestimmt, die sich wiederum daran orientiert, welche Kenntnisse und Erfahrungen die ordnungsgemäße und sachgerechte Ausübung der Tätigkeit voraussetzt. Allerdings darf die Tätigkeit den Versicherten auch nicht überfordern; er darf im Vergleichsberuf weder wesentlich über- noch unterqualifiziert sein. Wenn die Fähigkeiten des Versicherten hinter seiner Vergleichsgruppe zurückbleiben, ist nicht auf den Durchschnitt, sondern auf die Fähigkeiten des einzelnen Versicherten abzustellen. Nicht erforderlich ist es, dass der Versicherte im Verweisungsberuf seine kompletten Kenntnisse und Fähigkeiten einbringen bzw. nutzen kann, da ansonsten eine Verweisung praktisch nicht möglich wäre.
2. Begriff der Kenntnisse bzw. Ausbildung und Fähigkeiten
Rz. 176
Die am Markt befindlichen Bedingungswerke arbeiten mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten, die jedoch im Grunde den gleichen Erklärungsgehalt haben. Einige Bedingungswerke sehen vor, dass der Verweisungsberuf den Kenntnissen und Fähigkeiten der versicherten Person entsprechen muss. Der Begriff "Kenntnis" spricht das Wissen der versicherten Person an. Unter dem Begriff "Fähigkeiten" sind sowohl Begabungen wie auch solche Eigenschaften, die durch Lernprozesse erworben wurden, zu verstehen. Dies können z.B. organisatorische oder handwerkliche Fähigkeiten und auch körperliche oder geistige Stärken sein. Dabei ist unwichtig, auf welchem Weg der Versicherte seine Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, wobei es genauso wenig darauf ankommt, ob er diese in seinem zuletzt in gesunden Tagen ausgeübten Beruf einsetzen musste.
Der Versicherte muss sowohl erforderliche objektive, wie einen bestimmten Schul- oder Ausbildungsabschluss, ein Mindestalter etc., erfüllen, als auch evtl. erforderliche subjektive Voraussetzungen für den Vergleichsberuf mitbringen. Dies können dokumentierte Befähigungen, wie etwa eine bestimme Berufserfahrung, aber auch sog. soft skills sein, etwa "Verkaufsbefähigung", Führungsstärke, Nervenstärke etc. Dies bedeutet nicht, dass derartige Eigenschaften nicht objektivierbar sein könnten. Gibt es z.B. Zeugnisse, in denen bestimmte derartige Beschreibungen enthalten sind, muss sich der Versicherte jedenfalls schlüssig dazu erklären, weshalb er die fragliche Eigenschaft gleichwohl nicht (mehr) besitzt.
Rz. 177
Andere Bedingungswerke stellen nicht auf Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern auf Ausbildung und Fähigkeiten der versicherten Person ab. Ein qualitativer Unterschied zwischen den Begriffspaaren "Kenntnisse und Fähigkeiten" und "Ausbildung und Fähigkeiten" besteht nicht. Die Kenntnisse, die jemand hat, werden ihm häufig durch die Ausbildung vermittelt worden sein. Ebenso korrespondieren die Begriffe "Fähigkeiten" und "Erfahrungen" weitgehend, da viele Fähigkeiten auf Erfahrungen basieren.
3. Beurteilungsmaßstab
Rz. 178
Der Maßstab für die Beurteilung der Ausbildung und Erfahrung bzw. der Kenntnisse und Fähigkeiten ist ein objektiv-individueller. Es kommt nicht darauf an, ob die versicherte Person die Kenntnisse und Erfahrungen, die sie besitzt, auch in ihrem letzten Beruf einsetzen musste; es kommt nur darauf an, dass sie überhaupt über diese verfügt – unbeachtlich, auf welchem Wege sie erworben wurden.
Rz. 179
Wenn der Vergleichsberuf der Ausbildung der versicherten Person entsprechen soll, muss er ihr den Zugang zu dem Verweisungsberuf aber grundsätzlich eröffnen. Es kann deshalb niemand auf eine Tätigkeit verwiesen werden, die üblicherweise nur mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung ausgeübt wird, die er nicht besitzt. Irrelevant sind demnach Kenntnisse, die der Versicherte wegen seiner geistigen Fähigkeiten noch erwerben könnte. Es sind nur solche Defizite hinzunehmen, ...