Rz. 59
Ist eine Beweisaufnahme notwendig, muss der Richter nach deren Durchführung entscheiden, welcher der Darstellungen der Parteien er folgen will. Bei dieser Entscheidung ist er nicht völlig ungebunden, er ist vielmehr gehalten, zur Erforschung der Wahrheit anhand der sog. Beweislastregeln Beweis zu erheben und anhand des Ergebnisses einer förmlich durchgeführten Beweisaufnahme eine Entscheidung zu fällen.
Unter Beweislast versteht man dabei den Nachteil, den eine Partei prozessual ertragen muss, wenn eine entscheidungsrelevante Tatsache im Gerichtsverfahren nicht nachgewiesen oder unstreitig gestellt wird.
1. Faustregel
Rz. 60
Als grundlegende Beweislastregel gilt, dass immer derjenige, der sich auf eine ihm günstige Rechtsfolge einer Norm beruft, die für die Anwendung der Rechtsnorm erforderlichen Tatsachen zu beweisen hat. Beruft sich beispielsweise jemand auf einen ihm angeblich zustehenden Kaufpreisanspruch, muss er diesen im Bestreitensfall beweisen, d.h. beweisen, dass ein Kaufvertrag überhaupt geschlossen worden ist und dass die für die Fälligkeit normalerweise erforderliche mangelfreie Lieferung des Kaufgegenstandes erfolgt ist. Bleibt hingegen unstreitig, dass ein Vertrag geschlossen und die geschuldete Leistung vom Verkäufer erbracht worden ist, beruft sich jedoch der Käufer auf Sachmängel, so bedeutet dies, dass für diese Sachmängel, die dem Käufer Gegenrechte gegen den Kaufpreisanspruch verleihen, der Käufer beweispflichtig ist, sofern es sich nicht um einen sog. Verbrauchsgüterkauf handelt, bei dem gem. § 476 BGB in den ersten sechs Monaten seit Gefahrübergang der Verkäufer beweisen muss, dass die Sache bei Übergabe an den Käufer mangelfrei war.
2. Ausnahmen
Rz. 61
Ausnahmen von dieser Regel gibt es regelmäßig nur dann, wenn das Gesetz sie – wie in § 476 BGB – ausdrücklich vorsieht. Beispiele hierfür finden sich insbesondere im Produkthaftungsrecht oder auch im Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen.
3. Büromäßige Behandlung
Rz. 62
Die Beweislastregeln erfordern von dem Rechtsanwalt besondere Vorsicht. An ihnen wird deutlich, dass der Rechtsanwalt sich nicht darauf beschränken kann, bei der Bearbeitung eines Zivilrechtsfalles ausschließlich den Sachverhalt vorzutragen. Wenn der Rechtsanwalt nicht die maßgeblichen Rechtsnormen prüft, weiß er gar nicht, welche Tatsachen er überhaupt dem Gericht notfalls unter Beweisantritt vortragen muss. Umgekehrt wüsste er auf der Beklagtenseite nicht, welchen Sachverhalt er vortragen muss, um dem Vortrag der Klägerseite entscheidungserheblich zu widersprechen. Von der Anwendung der Beweislastregeln hängt wesentlich auch die Risikobewertung ab, die typischerweise von der Mandantenseite dem Anwalt angetragen wird. Es ist auch anzuraten, die Mandanten jeweils auf Beweislastprobleme ausdrücklich schriftlich hinzuweisen, wenn streitige entscheidungserhebliche Tatsachen, die im Einzelfall von dem eigenen Mandanten bewiesen werden müssen, nach Aktenlage des Rechtsanwalts nicht oder nur schwerlich beweisbar sein werden. Es kommt immer wieder vor, dass bei für den Mandanten nachteiligen Entscheidungen diese sich nicht mehr an in früherem Stadium diesbezüglich erfolgte mündliche "Belehrungen" erinnern und die vermeintliche Falschberatung des Rechtsanwalts plötzlich im Raum steht.
Rz. 63
Beispiel:
A und B haben einen Werkvertrag geschlossen. A stellt eine Rechnung über 10.270,00 EUR, wobei dieser Betrag der üblichen Vergütung für Arbeiten der von A ausgeführten Art entspricht. B zahlt lediglich 5.000,00 EUR. A klagt nun auf Zahlung der noch fehlenden 5.270,00 EUR und trägt vor, die von ihm geforderte Vergütung sei üblich und angemessen. B weigert sich zu zahlen und erklärt, man habe sich bei Vertragsschluss auf einen Pauschalpreis von 5.000,00 EUR geeinigt.
Nach der Grundregel müsste dieser Vortrag auf den ersten Blick dazu führen, dass der Auftraggeber die ihm günstige Pauschalpreisabrede beweisen müsste. Dem ist aber nicht so, vielmehr ist es nach der herrschenden Rechtsprechung des BGH Sache des Auftragnehmers zu beweisen, dass kein Pauschalpreis verabredet worden ist. Der BGH begründet diese Beweislastverteilung dogmatisch zutreffend damit, dass der Anspruchsteller – hier der den Werklohn fordernde Werkunternehmer – alle anspruchsbegründenden Voraussetzungen zu beweisen habe. Dazu gehört im Werkvertragsrecht auch die behauptete Vereinbarung über den Werklohn, da nur bei deren Fehlen die übliche Vergütung als geschuldet gilt, § 632 Abs. 2 BGB. Sache des Werkunternehmers ist es folglich zu beweisen, dass entweder die übliche Vergütung vereinbart, oder dass gar keine Vergütung vereinbart worden ist, aber nach dem Umfang der Arbeiten die übliche Vergütung gesetzlich geschuldet wird.