Rz. 60
Weitgehend ungeklärt sind die Fragen der Geltendmachung oder Erfüllung eines verjährten Pflichtteilsanspruchs in Todesfällen vor Inkrafttreten des Jahressteuergesetzes 1997 vom 20.12.1996 mit den dazugehörigen Übergangsproblemen.
Beispiel
Ehemann M ist im Jahre 1992 verstorben. Er hatte seine Ehefrau zur Alleinerbin eingesetzt. Im Jahre 2008 machen die Kinder ihren Pflichtteil im Einvernehmen mit dem länger lebenden Ehegatten geltend. Die Beteiligten möchten wissen, welches Recht anwendbar ist, welche Freibeträge und Steuersätze zur Anwendung gelangen.
Rz. 61
In einem Fall des § 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b ErbStG richtet sich die Entstehung der Steuer nach der Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs. Soweit es sich um den Verzicht auf einen Pflichtteil gegen Abfindung handeln sollte, ist gem. § 9 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. f ErbStG der Zeitpunkt des Verzichts für die Entstehung der Steuer maßgeblich. Der Zeitpunkt der Entstehung der Steuer ist wiederum nach § 37 Abs. 1 ErbStG i.V.m. Art. 2 des Jahressteuergesetzes 1997 maßgeblich. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen und der Überleitungsvorschriften des § 37 Abs. 1 ErbStG i.d.F. des Art. 2 des Jahressteuergesetzes 1997 kommt bei Entstehung der Steuer nach dem 1.1.1996 das neuere Recht zur Anwendung. Aus diesem Grunde ist trotz eines Vorversterbens des Ehemannes im Jahre 1993 bei einer Pflichtteilserfüllung oder einem Pflichtteilserlass gegen Abfindung im Jahre 2008 das im Jahre 2008 geltende Recht anwendbar. Erfolgt die Geltendmachung hingegen in 2009, so gilt das neue Recht, bei einem Kind also ein Freibetrag von 400.000 EUR.
Rz. 62
Abwandlung
Würde sich an dem vorstehenden Beispiel etwas ändern, wenn erst im Jahre 1990 der vorverstorbene Ehemann den Kindern jeweils Vermögenszuwendungen i.H.v. damals 100.000 DM zugewandt hätte?
Rz. 63
An dem vorstehenden Beispiel würde sich auch in der Abwandlung nichts ändern. Denn im Jahre 1991 wäre der Freibetrag zwar bereits überschritten und damit eine Erbschaftsteuer ausgelöst worden. Da die Steuer mit der Pflichtteilsgeltendmachung oder dem Verzicht gegen Abfindung erst im Jahre 2008 bzw. 2009 erfolgt, stünde nach § 14 ErbStG der damals im Todeszeitpunkt bereits erloschene Freibetrag nunmehr in voller Höhe wieder zur Verfügung.
Rz. 64
Gleichzeitig stellt sich in den entsprechenden Fällen die Frage, auf welche Art und Weise sich die spätere Pflichtteilserfüllung durch den länger lebenden Ehegatten auf seine Erbschaftsteuerpflicht auswirkt. Insoweit handelt es sich um ein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO. Mit der Erfüllung des Pflichtteilsanspruchs bzw. mit Geltendmachung oder Verzicht gegen Abfindung ist daher der ursprüngliche Erbschaftsteuerbescheid aus dem Jahre 1991 zu berichtigen, indem der später erfüllte Pflichtteilsanspruch bzw. die vereinbarte Abfindung nach § 10 Abs. 5 ErbStG zu berücksichtigen und insoweit eine überzahlte Erbschaftsteuer dem länger lebenden Ehegatten zu erstatten ist.
Rz. 65
Praxishinweis
Um sich die vorstehenden Gestaltungsmöglichkeiten zu erhalten, sollte bei der Abfassung von Pflichtteilsstrafklauseln stets auch an die steuerlichen Interessen der Beteiligten gedacht werden. Dabei sollte klargestellt werden, dass die freiwillige Erfüllung eines Pflichtteils ohne Durchsetzung der Abkömmlinge gegen den Willen des länger lebenden Ehegatten eine Pflichtteilsstrafklausel nicht auslöst.