Rz. 161
Die Richtlinie (89/666/EWG) vom 21.12.1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen (Zweigniederlassungsrichtlinie) ergänzt die (Erste) Publizitätsrichtlinie und die beiden (Vierte und Siebte) Bilanzrichtlinien. Sie enthält Regeln darüber, welche Publizitätserfordernisse eine in einem anderen EU-Mitgliedstaat errichtete Kapitalgesellschaft bei Errichtung einer Zweigniederlassung im Inland einhalten muss. Dies betrifft zum einen die Eintragung gesellschaftsrechtlicher Daten im Handelsregister, zum anderen die Offenlegung bestimmter Unterlagen der Rechnungslegung. Die Regelungen der Zweigniederlassungsrichtlinie finden sich mittlerweile in Art. 29–Art. 43 EU-GesR-RL. Die Umsetzung der Richtlinie erfolgte in Deutschland durch Gesetz vom 22.7.1993. Hierdurch wurden insb. die §§ 13d–13g sowie § 325a in das HGB eingeführt.
Dabei wird ein doppelter Schutzzweck verfolgt: Zum einen soll der Geschäftsverkehr dadurch geschützt werden, dass er durch eine Publizität am Ort der Zweigniederlassung einfach an die der Publizität unterliegenden Informationen herankommt, wie in dem Fall, dass die ausländische Gesellschaft im Inland eine Tochtergesellschaft errichtet hätte. Nach ihrer dritten Begründungserwägung wurde die Elfte Richtlinie ausdrücklich mit Rücksicht auf den Umstand erlassen, dass die Errichtung einer Zweigniederlassung neben der Gründung einer Tochtergesellschaft eine der Möglichkeiten sei, die einer Gesellschaft zur Ausübung des Niederlassungsrechts in einem anderen Mitgliedstaat zur Verfügung stehen. Zum anderen soll die ausländische Gesellschaft in der Ausübung ihrer Niederlassungsfreiheit dadurch geschützt werden, dass sie im Zweigniederlassungsstaat ihrem Heimatrecht vergleichbare Formalitäten zu beachten hat. Gerade dieser Aspekt war das Thema der bekannten Entscheidung des EuGH in Sachen "Inspire Art".
Gegenstand dieser Entscheidung war ein niederländisches Gesetz über sog. formal ausländische Gesellschaften (Wet op de formeel buitenlandse vennootschappen, WFBV). Dieses sah für im Ausland gegründete Gesellschaften, die ausschließlich in den Niederlanden tätig werden, besondere Anforderungen vor. U. a. verlangte das Gesetz die Angabe im Handelsregister, dass es sich bei der ausländischen Gesellschaft um eine "formal ausländische Gesellschaft", also um eine "Scheinauslandsgesellschaft" bzw. "pseudo foreign corporation" handelt (Art. 1 und 2 Abs. 1 WFBV), die Angabe des Datums der ersten Eintragung im ausländischen Handelsregister und der Informationen über den Alleingesellschafter im Handelsregister des Aufnahmestaats (Art. 2 Abs. 1 WFBV) sowie die zwingende Hinterlegung einer Erklärung von Wirtschaftsprüfern, dass die Gesellschaft die Voraussetzungen bzgl. des gezeichneten und eingezahlten Mindestkapitals und des Eigenkapitals erfüllt (Art. 4 Abs. 3 WFBV).
Der EuGH erinnert in seiner Entscheidungsbegründung daran, dass aus der 4. und 5. Begründungserwägung der Elften Richtlinie hervorgehe, dass die Unterschiede, die in den nationalen Rechtsvorschriften für Zweigniederlassungen insb. im Bereich der Offenlegung bestehen, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit stören können und deshalb zu beseitigen seien. Daraus folge, dass unbeschadet der für Zweigniederlassungen bestehenden sozialrechtlichen, steuerrechtlichen und statistischen Informationspflichten, die durch die Elfte Richtlinie herbeigeführte Harmonisierung der Offenlegung solcher Niederlassungen abschließend sei, da sie nur so ihren Zweck erfüllen könne. Hervorzuheben sei ferner, dass Art. 2 Abs. 1 der Elften Richtlinie (jetzt Art. 30 Abs. 1 EU-GesR-RL) erschöpfend formuliert ist. Darüber hinaus enthalte Art. 2 Abs. 2 (jetzt Art. 30 Abs. 2 EU-GesR-RL) eine Aufzählung fakultativer Offenlegungsmaßnahmen für Zweigniederlassungen, was nur dann einen Sinn ergebe, wenn die Mitgliedstaaten keine anderen Offenlegungsmaßnahmen für Zweigniederlassungen als die in der Elften Richtlinie genannten vorsehen können.
Die verschiedenen Offenlegungsmaßnahmen der WFBV verstießen folglich gegen die Elfte Richtlinie, sodass die einschlägigen Regelungen nichtig waren.