Rz. 176
Die Europäische Gesellschaft (SE) ist – nach langen Verhandlungen – durch Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) Realität geworden. Die SE-Verordnung, zu deren Ausführung in Deutschland das SE-Ausführungsgesetz erlassen wurde, wird flankiert durch die Richtlinie 2001/86/EG zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, die in Deutschland durch das SE-Beteiligungsgesetz umgesetzt wurde.
Durch die neue Gesellschaftsform wurden erstmals die grenzüberschreitende Verschmelzung von Gesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten sowie die transnationale Sitzverlegung (Verlegung des statutarischen Gesellschaftssitzes) in einen anderen Mitgliedstaat der EU ermöglicht. Zudem wurden neue Möglichkeiten im Bereich der Unternehmensmitbestimmung eingeführt ("Verhandlungslösung").
Das Europäische Statut verleiht der Europäischen Gesellschaft (SE) einen supranationalen Charakter, der wegen der Regelung in Art. 9 SE-VO mit einer komplizierten Normenhierarchie verbunden ist. Diese baut sich pyramidenhaft wie folgt auf:
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Den obersten Rang haben die materiellen Vorschriften der SE-VO; |
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an zweiter Stelle kommen die Bestimmungen der Satzung der SE, soweit diese unmittelbar auf einer "Satzungsermächtigung" durch die SE-VO beruhen; |
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soweit die SE-VO die Frage nicht regelt, weil entweder der gesamte Bereich ausgespart wurde oder aber die Verordnung für den Einzelfall keine Regelung enthält, so gelten die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem die Europäische Gesellschaft (SE) ihren Sitz hat, und zwar hier wiederum an erster Stelle die Regeln, die speziell die Europäische Gesellschaft (SE) betreffen; |
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an vierter Stelle gelten die Rechtsvorschriften des Sitzstaates, die auf eine nach dem Recht des Sitzstaats gegründete AG Anwendung finden würden (also das allgemeine Aktienrecht); |
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schließlich gelten die Bestimmungen in der Satzung der Europäischen Gesellschaft (SE), unter den gleichen Voraussetzungen wie im Fall einer nach dem Recht des Sitzstaats der Europäischen Gesellschaft (SE) gegründeten AG. |
Es gibt also nicht "die Europäische Gesellschaft (SE)", sondern vielmehr die Europäische Gesellschaft (SE) in verschiedenen nationalen Ausprägungen.
Rz. 177
Gem. Art. 7 SE-VO muss der satzungsmäßige Sitz der Europäischen Gesellschaft (SE) in der Gemeinschaft liegen, und zwar in dem Mitgliedstaat, in dem sich die Hauptverwaltung der Europäische Gesellschaft (SE) befindet. Fallen der Satzungssitz und der Sitz der Hauptverwaltung auseinander, so muss der Mitgliedstaat gem. Art. 64 SE-VO darauf hinzuwirken, dass die Einheit wiederhergestellt wird. Dies bedeutet, dass die SE der Sitztheorie unterliegt – und damit weniger mobil ist als die Kapitalgesellschaften der meisten EU-Mitgliedstaaten, die nach ihrem Gründungsrecht wegziehen dürfen und damit von der Europäischen Gründungstheorie profitieren. Allerdings führt das Auseinanderfallen von Satzungssitz und Hauptverwaltungssitz nicht zur Nichtigkeit oder zum Erlöschen der Gesellschaft, sondern kann "geheilt" werden, indem gem. Art. 8 SE-VO der Satzungssitz der Europäischen Gesellschaft (SE) in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wird. Diese Verlegung führt weder zur Auflösung der Europäischen Gesellschaft (SE) noch zur Gründung einer neuen juristischen Person. Wegen der nationalen Ausprägung des Rechts der Europäischen Gesellschaft (SE) in jedem einzelnen Staat der EU geht sie aber mit einem partiellen Statutenwechsel einher, die Gesellschaft muss an das SE-Recht des neuen Sitzstaates angepasst werden. Darüber hinaus sieht die SE-VO für die grenzüberschreitende Sitzverlegung ein besonderes Verfahren vor (mit Verlegungsplan, Barabfindungsangebot an Minderheitsaktionäre etc.).