Rz. 108
Da eine deutsche Kapitalgesellschaft nur Bestand hat, wenn sie durch Eintragung in ein deutsches Handelsregister gegründet worden ist, die Eintragung in das deutsche Handelsregister allerdings wiederum die Zuständigkeit des deutschen Handelsregisters durch einen Satzungssitz im Inland voraussetzt, ergibt sich – unabhängig von § 4a GmbHG und § 5 AktG – eine unmittelbare Verkettung von inländischem Satzungssitz und Rechtsfähigkeit nach dem deutschen Recht. Die Verlegung des Satzungssitzes ins Ausland würde daher mit Löschung der Gesellschaft im deutschen Handelsregister zum Verlust der aus dem deutschen Recht abgeleiteten Rechtspersönlichkeit der Gesellschaft führen.
Rz. 109
Der Verlust dieser Rechtspersönlichkeit würde auch bei Anwendung der Gründungstheorie eintreten. Bei Anknüpfung an den Satzungssitz würde ebenfalls mit der Verlegung des Satzungssitzes in ein anderes Land – jedenfalls wenn man den Satzungssitz der Gesellschaft oder die Belegenheit des Registers, in dem die Gesellschaft mit ihrem Hauptsitz registriert worden ist, als Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des Gründungsstatuts ansieht – wegen des damit einhergehenden Statutenwechsels die Gesellschaft erlöschen.
Rz. 110
Die deutsche Rspr. hatte zunächst übereinstimmend den Vollzug einer Verlegung des statutarischen Sitzes im Handelsregister abgelehnt. Eine Vorlage eines deutschen Handelsregisters an den EuGH wurde vom EuGH aus verfahrensrechtlichen Gründen als unzulässig abgelehnt. In der Rechtssache Cartesio“ hat der EuGH dann allerdings die Möglichkeiten eines grenzüberschreitenden Wegzugs bejaht. Zwar hat der EuGH in seiner Erwiderung zur vierten Vorlagefrage die Daily-Mail-Doktrin dahingehend bestätigt, dass die Niederlassungsfreiheit Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehe, die es einer nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft verwehren, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen und dabei ihre Eigenschaft als Gesellschaft des nationalen Rechts des Mitgliedstaats, nach dessen Recht sie gegründet wurde, zu behalten.
Brisanz erhielt die Cartesio-Entscheidung aber dadurch, dass der EuGH – quasi im gleichen Atemzug mit der Bekräftigung der Daily-Mail-Doktrin – feststellt, dass der Fall einer Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft aus einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat unter Änderung des anwendbaren nationalen Rechts unter Umwandlung in eine dem nationalen Recht des zweiten Mitgliedstaats unterliegende Gesellschaftsform von diesem Fall zu differenzieren sei. In diesem zweiten Fall dürfe der Gründungsmitgliedstaat die Gesellschaft nicht dadurch, dass er ihre Auflösung und Liquidation verlangt, daran hindern, sich in eine Gesellschaft nach dem nationalen Recht dieses anderen Mitgliedstaats umzuwandeln, soweit dies nach diesem Recht möglich ist. Ein solches Hemmnis für die tatsächliche Umwandlung einer solchen Gesellschaft ohne vorherige Auflösung und Liquidation in eine Gesellschaft des nationalen Rechts des Mitgliedstaats, in den sie sich begeben möchte, stelle eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit der betreffenden Gesellschaft dar, die, wenn sie nicht zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entspricht, nach Art. 49, 54 AEUV verboten sei.
Mit anderen Worten: Zwar kann ein Mitgliedstaat einer seinem Recht unterliegenden Gesellschaft den Wegzug verbieten. Gibt diese aber infolge des Wegzugs das ihr vom Gründungstaat verliehene "Rechtskleid" auf und wandelt sich zugleich in ein Rechtsgebilde um, das der Zuzugsstaat ihr bereitwillig zur Verfügung stellt, so hat der Wegzugsstaat grds. zu akzeptieren, dass er die Regelungskompetenz verloren hat, und muss die Gesellschaft nach den Regeln des Zuzugsstaates anerkennen. Insoweit hatte die deutsche Rechtsordnung bereits aufgrund der Entscheidung des EuGH in der Rechtsache "Cartesio" zu akzeptieren, dass eine deutsche Kapitalgesellschaft durch Verlegung ihres statutarischen Gesellschaftssitzes in den Geltungsbereich eines "aufnahmebereiten" Rechtssystems einen Wegzug unternimmt bzw. einen grenzüberschreitenden Formwechsel vollzieht. Dementsprechend hatten deutsche Gericht bereits vor Inkrafttreten des Company Law Package, genauer der Richtlinie (EU) 2019/2121 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 in Bezug auf grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen, einen Heraus-Formwechsel einer deutschen GmbH unter Zugrundelegung der Rspr. des EuGH zu Art. 49 und 54 AEUV als grds. zulässig bewertet.