Rz. 111
Bei Sitzverlegung einer ausländischen Gesellschaft ins Inland (Zuzug) ist wie folgt zu differenzieren: Die Verlegung des tatsächlichen Sitzes der Hauptverwaltung führt auf der Basis der Sitztheorie zur Geltung deutschen Gesellschaftsstatuts, sodass die nicht nach den Vorgaben des deutschen Gesellschaftsrechts errichtete Gesellschaft allenfalls (bei Mehrgliedrigkeit) als OHG bzw. GbR behandelt werden kann.
Rz. 112
Ausgenommen hiervon sind freilich Gesellschaften, für die die Sitztheorie nicht gilt, sondern die sich aufgrund der Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV) oder aufgrund eines bilateralen Abkommens auf die Gründungstheorie berufen können. Diesen bleibt die von ihrem Gründungsrecht verliehene Rechtsfähigkeit trotz Verlegung des tatsächlichen Sitzes der Hauptverwaltung erhalten, soweit nicht das Gründungsrecht selbst die Sitzverlegung zum Anlass nimmt, der Gesellschaft wegen Wegzugs die Rechtsfähigkeit zu entziehen.
Rz. 113
Fraglich ist, wie sich die Verlegung des statutarischen Sitzes ins Inland auswirkt. Eine solche würde zunächst voraussetzen, dass das bisherige Gesellschaftsstatut die Sitzverlegung zulässt – also die ausländische Gesellschaft aus dem bisherigen Gesellschaftsstatut "entlässt". Insoweit ist aber die bereits dargestellte Cartesio-Entscheidung des EuGH zu berücksichtigen, der zufolge, ein Mitgliedstaat einer seinem Recht unterliegenden Gesellschaft den Wegzug grds. verbieten kann. Gibt diese allerdings infolge des Wegzugs das ihr vom Gründungstaat verliehene Rechtskleid auf und wandelt sich in ein Rechtsgebilde, das der Zuzugsstaat ihr bereitwillig zur Verfügung stellt, so hat der Wegzugsstaat zu akzeptieren, dass er die Regelungskompetenz verloren hat, und er muss die Gesellschaft nach den Regeln des Zuzugsstaates anerkennen.
Rz. 114
Ferner müsste aber auch der Zuzugsstaat die Fortsetzung der Gesellschaft unter Beibehaltung ihrer bisherigen Identität ermöglichen, insb. diese in das Handelsregister eintragen. Insoweit ergaben sich bereits Folgewirkungen der am 13.12.2005 ergangenen Entscheidung des EuGH in der Rechtssache SEVIC Systems. Dort hatte der EuGH in Bezug auf die Zulässigkeit der grenzüberschreitenden Verschmelzung festgestellt, dass die innereuropäische Freizügigkeit das Recht auf Gründung und Leitung einer Gesellschaft nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates, die für dessen eigene Angehörige gelten, umfasse. In diesen Anwendungsbereich fielen alle Maßnahmen, die den Zugang zu und die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in jenem Staat dadurch ermöglichen oder auch nur erleichtern, dass sie die tatsächliche Teilnahme aller Wirtschaftsbeteiligten am Wirtschaftsleben unter denselben Bedingungen gestatten, die für die inländischen Wirtschaftsbeteiligten gelten. Dies bezieht der EuGH dann auch auf die grenzüberschreitende Verschmelzung.
Rz. 115
Wenn der EuGH auf diese Weise für einen in einem anderen EU-Mitgliedstaat gegründeten Rechtsträger dieselben Verschmelzungsmöglichkeiten eröffnen will, wie einem inländischen Rechtsträger, so gibt es keinen Grund, dies nicht auch auf den grenzüberschreitenden Formwechsel zu beziehen. Am 12.7.2012 hat der EuGH schließlich in der Rechtssache "Vale" entschieden, dass die Art. 49, 54 AEUV dahingehend auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung eines Aufnahmemitgliedstaates entgegenstehen, die einer ordnungsgemäß nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft das Recht verweigern, ihren Satzungssitz in den Aufnahmemitgliedstaat zu verlegen und dort ihre Tätigkeit als nach dem Recht dieses Staates gegründete Gesellschaft fortzusetzen. Nach dieser Entscheidung war klar, dass der Aufnahmemitgliedstaat die Möglichkeit einer formwechselnden Umwandlung auch für Gesellschaften anderer Mitgliedstaaten eröffnen muss, wenn und soweit er dies für seine eigenen Rechtsträger vorsieht. Der grenzüberschreitende Hineinformwechsel zu einer deutschen GmbH war daher bereits auf dieser Grundlage möglich.
Umstritten war allerdings nach den Urteilen "Cartesio" und "Vale" noch, ob auch eine "isolierte Satzungssitzverlegung", also ein grenzüberschreitender Formwechsel, bei dem ausschließlich der Satzungssitz als Anknüpfungspunkt für das Gesellschaftsstatut nicht aber die tatsächliche Geschäftstätigkeit in den anderen Staat verlegt wird, zulässig ist. Im Urteil "Vale" betonte der EuGH unter Rückgriff auf eine ähnliche Formulierung in seinem Urteil "Cadbury Schweppes", dass sich die den Formwechsel durchführende Gesellschaft nur dann auf die Niederlassungsfreiheit berufen kann, wenn sie "eine tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung im Aufnahmemitgliedstaat auf unbestimmte Zeit" anstrebt. Es wurde daher vertreten, dass die isolierte Satzungssitzverlegung nicht von der Niederlassungsfreiheit geschützt ist. Der EuGH hat mittlerweile auch diese Frage geklärt und in der Rechtssache C-106/16 (Polbud-Wykonawstwo sp. z.o.o. in Liquidation) ents...