I. Überblick
Rz. 133
Das Gesellschaftsrecht ist wie kaum ein anderes Rechtsgebiet in den Einfluss der Europäisierung geraten. Der Grund dafür ist die besondere Bedeutung, die dem Gesellschaftsrecht für die Verwirklichung des gemeinsamen Binnenmarktes zukommt. Die Europäische Kommission bezeichnet das europäische Gesellschaftsrecht zutreffend als Eckpfeiler des Binnenmarkts. Die Intensität der Europäisierung wird dadurch gesteigert, dass eine Vielfalt von Einflussnahmen zu beobachten ist:
In formeller Hinsicht steht der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) an oberster Stelle (primäres Gemeinschaftsrecht). Dieser statuiert in Art. 49 und 54 AEUV die Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften. Die hierzu ergangene Rspr. des EuGH zur Anerkennung in einem anderen EU-Mitgliedstaat gegründeter Gesellschaften, der Errichtung von Zweigniederlassungen, der Möglichkeit grenzüberschreitender Verschmelzungen und Sitzverlegungen etc. hat im deutschen (autonomen) internationalen Gesellschaftsrecht einen Paradigmenwechsel bewirkt. Die damit einhergehende Diskussion um den "Wettbewerb der Gesellschaftsrechte" hat darüber hinaus Anstoß für Änderungen des GmbH-Rechts gegeben.
Zudem erlässt die Kommission Richtlinien und Verordnungen (sekundäres Gemeinschaftsrecht). Rechtsgrundlage dafür sind die Art. 50 Abs. 2 Buchst. g), Art. 114 AEUV. Diese Ermächtigungsgrundlagen berechtigen die Kommission zur Angleichung des gesamten Gesellschaftsrechts, einschließlich des Mitbestimmungs-, Bilanz- und Gesellschaftskollisionsrechts.
Rz. 134
Inhaltlich ist bereits seit einiger Zeit ein Wechsel in der europäischen Politik zu betrachten: Anfangs richtete sich die Absicht der Kommission offenbar darauf, die Gesellschaftsrechte der Einzelstaaten vollständig zu vereinheitlichen. Diese Politik hat mit dem gescheiterten Entwurf zur (Fünften) Strukturrichtlinie ihren vorläufigen Schlusspunkt erreicht. Seitdem schälen sich einige zielorientierte Strategien heraus:
Zum einen schafft die Kommission neben den nationalen Rechtsformen einige "supranationale" Rechtsformen, wie z.B. die Europäische Gesellschaft (SE), die Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV) und die Europäische Genossenschaft. Zum anderen wurde die grenzüberschreitende Mobilität (grenzüberschreitende Verschmelzung, Spaltung und Sitzverlegung) der nach nationalem Recht errichteten Gesellschaften harmonisiert. Eine besondere Dynamik hat dieser Bereich dadurch erhalten, dass die Rspr. des EuGH den Gemeinschaftsgesetzgeber immer wieder überholt hat, indem sie die Anerkennung und absolute Niederlassungsfreiheit der Gesellschaften sowie die grenzüberschreitende Verschmelzung von Gesellschaften aus verschiedenen EU-Staaten durchgesetzt und die argumentativen Voraussetzungen für die grenzüberschreitende Verlegung des Satzungssitzes sowie der grenzüberschreitenden Spaltung ("SEVIC Systems", "Cartesio" und "Vale") geschaffen hat, noch bevor die einschlägige Zehnte und die mittlerweile verabschiedete Änderungsrichtlinie zu grenzüberschreitenden Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen (Umwandlungsrichtlinie) verbindlich geworden sind. Daneben treibt der Europäische Gesetzgeber in jüngster Zeit nicht nur das Thema Nachhaltigkeit im Kontext der Unternehmensberichterstattung sowie der Corporate Governance mit Nachdruck voran, sondern auch die Digitalisierung des Gesellschaftsrechts. So wurde nicht nur am 11.7.2019 die Richtlinie (EU) 2019/1151 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 im Hinblick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht als Teil des Company Law Packages im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Die Europäische Kommission hat zudem am 29.3.2023 einen Vorschlag für eine Richtlinie zur Ausweitung des Einsatzes digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht präsentiert.
Rz. 135
Die eröffnete freie Mobilität der Gesellschaften wie auch die Schaffung von supranationalen Gesellschaftsformen setzt den nationalen Gesetzgeber – will er nicht hinnehmen, dass die nationalen Rechtsformen von den ausländischen bzw. supranationalen Gesellschaftsformen verdrängt werden – einem Modernisierungsdruck aus. Aus diesen Gründen sind letztlich auch das MoMiG, die Einführung der Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) sowie der Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung und die Eröffnung der Wegzugsfreiheit für registrierte Personengesellschaften durch das MoPeG ohne die Entwicklungen auf der europäischen Ebene nicht vorstellbar.