1. Kapitalverfassung
Rz. 47
Die Kapitalverfassung einer Gesellschaft unterliegt dem Gesellschaftsstatut. Dies umfasst das gesetzliche Mindestkapital, die Voraussetzungen und das einzuhaltende Verfahren bei der Kapitalerhöhung und Kapitalherabsetzung sowie die Kapitalaufbringung einschließlich der Zulässigkeit von Sacheinlagen. Gleiches gilt nach weit überwiegender Ansicht – wenn auch hier die Einigkeit schon nicht mehr besteht – ebenso für die damit eng zusammengehörigen Fragen der Kapitalerhaltung. Voraussetzungen und Folgen des Eigenkapitalersatzrechts, das zwar der Kapitalerhaltung im weiteren Sinne dient, sind hingegen insolvenzrechtlich zu qualifizieren.
2. Kollisionsrechtliche Behandlung der Durchgriffshaftung
Rz. 48
Umstritten ist die Frage, ob für einzelne Haftungs- und Durchgriffstatbestände vom Gesellschaftsstatut abweichende "Sonderanknüpfungen" möglich sind. Hierbei sollen diverse Haftungstatbestände z.B. als allgemeine Verhaltensvorschriften aus dem Gesellschaftsstatut herausgenommen und dem Deliktsstatut oder dem Insolvenzstatut unterstellt werden. Bei einer ausschließlich im Inland agierenden ausländischen Briefkastengesellschaft ergibt sich so die Möglichkeit, aufgrund inländischen Tatortes über Art. 4 Rom II-VO bzw. bei Insolvenzeröffnung im Inland das deutsche Recht als lex fori concursi (Art. 7 EuInsVO) zur Anwendung zu bringen. Anlass für diese Überlegungen ist der Schutz der inländischen Gläubiger bei der durch die EuGH-Entscheidungen "Überseering" und "Inspire Art" eröffneten Verwendung von ausländischen Gesellschaftsformen ohne gesetzliches Mindestkapital und Kapitalschutzgewähr als "faktische Inlandsgesellschaften".
Rz. 49
Durch eine Zuweisung zu unterschiedlichen Kollisionsnormen dürfen aber nicht logische Zusammenhänge zerrissen werden, indem inhaltlich zusammengehörende Regelungsbereiche verschiedenen Rechtsordnungen zugewiesen werden. Durch die vom Gesellschaftsstatut abweichende Qualifikation werden möglicherweise einschlägige Schutzvorschriften des ausländischen Gesellschaftsstatuts durch das deutsche Recht verdrängt. Letzterem Mangel will man vielfach durch eine sog. "Doppelqualifikation" abhelfen: Es sollen die durch die Sonderanknüpfung ermittelten Vorschriften neben jene des Gesellschaftsstatuts treten. Die "Doppelqualifikation" stellt freilich ein immer noch "zwielichtiges" kollisionsrechtliches Instrument dar, das allenfalls dann zum Einsatz gelangen sollte, wenn eine eindeutige Qualifikation schon aus "technischen Gründen" ausscheidet.
Hinweis
Die Doppelqualifikation kann zur Anwendung der Vorschriften mehrerer Rechtsordnungen auf dieselbe Frage und damit zu schwierig aufzulösenden Konkurrenzen (Normenfülle) führen. Schon aus diesem Grunde sollte vor einem voreiligen Ausweichen auf eine Mehrfachqualifikation sorgfältig geprüft werden, ob diese tatsächlich unvermeidbar ist oder nicht nur aus "politischen Gründen" angestrebt wird.
3. Existenzvernichtungshaftung
Rz. 50
Am ehesten denkbar ist die Anwendung deutschen Rechts bei faktischen Inlandsgesellschaften auf die Ansprüche aus einem existenzvernichtenden Eingriff, soweit diese auf § 826 BGB gestützt werden. Hier könnte man an eine deliktische Qualifikation denken. Folge wäre, dass bei tatsächlichem Sitz der Gesellschaft im Inland der Tatort im Inland liegen würde und damit über Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO deutsches Recht anwendbar wäre.
Gleichwohl ist in diesen Fällen die Geltung des deutschen Tatortrechts nicht überzeugend. Wegen der gesellschaftsrechtlichen Beziehung zwischen Gesellschafter und Gesellschaft ist hier vielmehr auf die Ausweichklausel in Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO zurückgreifen. Danach wird das Tatortrecht durch ein Recht verdrängt, mit dem eine "offensichtlich engere Verbindung" besteht. Eine solche engere Beziehung stellt im Verhältnis der Gesellschaft zu den Gesellschaftern das Gesellschaftsverhältnis dar. Folglich gilt auch hier das Gesellschaftsstatut (akzessorische Anknüpfung gem. Art. 4 Abs. 3 Satz 2 Rom II-VO). Ein Anspruch der Gesellschaft aus existenzvernichtendem Eingriff wäre also a...