I. Allgemeines
Rz. 11
Als anspruchsbegründender Tatbestand eines jeden Leistungsbegehrens steht der Unfallbegriff am Beginn der materiell-rechtlichen Prüfung. Er ist als gesetzliches Leitbild in § 178 Abs. 2 S. 1 VVG verankert und entspricht der Regelung von Ziff. 1.3 AUB. Zwar ist § 178 Abs. 2 S. 1 VVG prinzipiell abdingbar, andere Unfallbegriffe haben sich aber bisher nicht durchgesetzt.
Hinweis
Grundsätzlich gilt, dass ohne Unfall kein Anspruch entsteht. Der Unfall ist der Versicherungsfall. So besteht z.B. aus der Unfallversicherung kein Anspruch auf Krankenhaustagegeld, wenn der Krankenhausaufenthalt wegen einer unfallfremden Ursache erfolgt.
Rz. 12
Um für bestimmte "Nichtunfälle" trotzdem eine Leistung erbringen zu können, werden Erweiterungen des Unfallbegriffs in die AUB aufgenommen, z.B. die sog. erhöhten Kraftanstrengungen, Ziff. 1.4.1 AUB 2020, als Unfall fingiert (Unfallfiktion) und somit als Versicherungsfall vereinbart. Diese Unfallfiktion gibt es bereits seit mehreren Bedingungsgenerationen. Neu in den AUB 2020 sind die Regelungen zu Dämpfen und Gasen (Ziff. 1.4.2), Unfällen unter Wasser (Ziff. 1.4.3) und bei Rettungsmaßnahmen (Ziff. 1.4.4). In Ziff. 2.8 gilt für die Leistungsart Bergungskosten ebenso als Unfall, wenn ein solcher unmittelbar drohte oder nach den konkreten Umständen zu vermuten war.
Hinweis
Die Leistungserweiterung der Ziff. 2.8.1.1 S. 2 AUB gilt nur für diese Leistungsart (Kosten für Such-, Bergungs- oder Rettungseinsätze). Zu beachten ist aber, dass ähnliche Konstellationen in Leistungserweiterungen auch bei anderen Leistungsarten in den AUB der VR (Besonderen Bedingungen) enthalten sein können.
Zu denken ist hier an die "Eigenbewegung", "Dread-Disease"-Verträge bzw. an diese angelehnte Leistungsarten als Bestandteil einer Unfallversicherung oder "kosmetische Operationen" bei bestimmten Erkrankungen.
II. Unfall (Ziff. 1.3)
1. Grundsätzliches
Rz. 13
Ein Unfall liegt vor, wenn die VP durch ein plötzlich von außen auf seinen Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. Diese Regelung zieht sich durch alle Bedingungsgenerationen (Ziff. 1.3 AUB 10/08/99, § 1 III AUB 94/88), nur in § 2 I AUB 61 fehlt der Klammerzusatz, was jedoch inhaltlich keine Auswirkungen hat.
In den AUB 2014 wurde die Gliederung der Ziff. 1.3 neu gestaltet. Dadurch wird hervorgehoben, dass sich die Unfreiwilligkeit auf die Gesundheitsschädigung bezieht, was aber bereits in den früheren Bedingungswerken galt.
Hinweis
Der Unfallbegriff setzt sich zusammen aus den Elementen:
▪ |
Unfallereignis (Plötzlich; Einwirkung von außen, Ereignis) |
▪ |
Unfreiwillige Gesundheitsschädigung |
▪ |
Adäquate Kausalität (zwischen Ereignis und Gesundheitsschaden). |
2. Unfallereignis
a) Plötzlichkeit
Rz. 14
Das Ereignis muss plötzlich eingetreten sein. In Rechtsprechung und Literatur hat sich bisher keine einheitliche Interpretation des Merkmals der Plötzlichkeit durchgesetzt.
Rz. 15
Der Begriff "Plötzlichkeit" enthält zunächst unstreitig ein objektiv zeitliches Element des Unfallbegriffs, indem durch ihn schon nach seinem Wortsinn nur solche Ereignisse einen Unfall darstellen können, die innerhalb eines kurzen, begrenzten Zeitraumes eintreten und wirken. Das Merkmal dient daher der Abgrenzung zu nur allmählich auf den Körper wirkenden Ereignissen.
Rz. 16
Zu beachten ist, dass das Ereignis selbst – und nicht die Gesundheitsschädigung als Folge – innerhalb einer kurzen Zeit eingetreten sein muss. So kann z.B. die Plötzlichkeit eines am Abend erfolgten Ereignisses nicht verneint werden, weil die Gesundheitsschädigung hierdurch erst am nächsten Morgen eingetreten ist. Die Gesundheitsbeschädigung muss zwar adäquat kausal auf die Einwirkung zurückzuführen, nicht aber zeitlich unmittelbare Folge der plötzlichen Einwirkung sein. Andererseits lässt das plötzliche Auftreten eines Gesundheitsschadens keinen Rückschluss auf die Plötzlichkeit des Ereignisses zu.
Rz. 17
In welchem Zeitraum ein Ereignis noch "plötzlich" oder schon "allmählich" auf den Körper wirkt, lässt sich nicht abstrakt festlegen, sondern nur anhand des Einzelfalles entscheiden. Als kurz sind in der Rechtsprechung Zeiträume von mehreren Minuten bis zu zwei Stunden angesehen worden. Richtigerweise wird man aber annehmen müssen, dass schon ein Zeitraum von mehreren Minuten nicht mehr im rein objektiven Sinne als kurz bezeichnet werden kann. Bei Überschreiten dieses Zeitraums kann allerdings die subjektive Komponente des Begriffs der Plötzlichkeit zum Tragen kommen.
Rz. 18
Die sprachliche Bedeutung des Wortes "plötzlich" umfasst das subjektive Moment des Überraschenden und Unerwarteten. Der BGH hat dies berücksichtigt und den Versicherungsschutz auf solche Ereignisse erstreckt, die zwar nicht innerhalb eines kurzen Zeitraums eingetreten sind, deren Eintritt für den Betroffenen aber unerwartet war. Die subjektive Komponente des Begriffs der Plötzlichkeit soll also nicht etwa vorhergesehene Ereignisse, die sich innerhalb eines kurzen Zeitraums verwirklichen, aus dem Begriff des Plötzlichen ausschließen. Der Gesichtspunkt des...