Rz. 57

Grundsätzlich hat der VN die Voraussetzungen für seinen Anspruch und damit auch für die Tatbestandsmerkmale des Unfallbegriffs nachzuweisen. Mit der – nicht abdingbaren – gesetzlichen Vermutung der Unfreiwilligkeit (§ 178 Abs. 2 S. 2 VVG) wird für die Unfreiwilligkeit die Beweislast umgekehrt. Der VR muss die Freiwilligkeit der Gesundheitsschädigung beweisen. Die Beweiserleichterung des Anscheinsbeweises steht hier nicht zur Verfügung,[99] da es für das individuelle Merkmal der Freiwilligkeit eine durch die Lebenserfahrung gesicherte Typizität menschlichen Verhaltens und seiner Begleitumstände in bestimmten Lebenslagen nicht gibt.[100]

 

Rz. 58

Allerdings ist es dem VR möglich, das Vorliegen des Merkmals Freiwilligkeit im Wege des Indizienbeweises zu führen.[101] Das Widerlegen der Unfreiwilligkeitsvermutung im Rahmen des § 286 ZPO – also der Beweis der Freiwilligkeit – erfordert auch keine unumstößliche Gewissheit, sondern es genügt ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen.[102] Regelmäßig wird nicht eine einzelne, sondern werden erst mehrere Hilfstatsachen[103] in ihrer Gesamtheit tragfähige Grundlage für die Überzeugungsbildung sein.[104]

 

Rz. 59

Für den Nachweis eines Suizids bedarf es keiner Vorzeichen (z.B. Abschiedsbrief)[105] dafür, dass eine Selbsttötung vorgelegen hat. Ein fehlendes Motiv schließt die Annahme eines Freitodes nicht aus.[106] Dennoch ist die Beweisführung für den VR – soweit die Auffindsituation nicht eindeutig ist – gegenüber der Selbstverstümmelung schwieriger, da eine materielle Motivation meist nicht vorliegt und die augenblickliche Gemütslage des Betroffenen und die subjektive Sicht seiner Situation häufig von irrationalen Momenten beeinflusst sein kann.[107]

 

Beispiele

Selbsttötung/Selbsttötungsabsicht bejaht:

Die Möglichkeit eines Unfalls kann ausgeschlossen werden, wenn dessen Annahme nur das Resultat einer Kette von Ungereimtheiten wäre, die in einer solchen Art und Häufung nur höchst theoretisch und so fernliegend erscheinen würden, dass sie außer Betracht zu bleiben haben (Fall: Sturz kopfüber aus einem Speicherfenster).[108]
Ein wesentliches Indiz für einen Freitod ist gegeben, wenn die VP bei abendlicher Dämmerung von der Mitte einer 130 m hohen Autobahnbrücke stürzt, nachdem sie sich auf die unterste Querstrebe des Brückengeländers gestellt hat.[109]
Sprang die VP nach Zeugenaussage mit nach vorn gestreckten Händen im Hechtsprung vor einen herannahenden Pkw, so ist von einer Selbsttötungsabsicht auszugehen.[110]

Selbsttötung/Selbsttötungsabsicht verneint:

Der dem VR obliegende Beweis eines Suizidversuchs ist nicht schon erbracht, wenn die VP in hilfloser Lage mit schwerer Kopfverletzung direkt neben dem Gleiskörper einer Bahnstrecke vorgefunden worden ist, wenn die näheren Umstände des Hergangs völlig im Dunkeln liegen.[111]
 

Rz. 60

Steht fest, dass der Versicherungsschutz entweder wegen Freiwilligkeit oder wegen des Ausschlusses einer Geistes- und Bewusstseinsstörung entfällt, so ist eine "Wahlfeststellung" möglich.[112] Es bedarf also in diesen Fällen keiner abschließenden Feststellung der Unfreiwilligkeit.

[99] BGH v. 18.3.1987 – IVa ZR 203/85, VersR 1987, 503.
[100] BGH v. 4.5.1988 – IVa ZR 278/86, VersR 1988, 683.
[101] OLG Koblenz v. 31.8.2006 – 10 U 1763/05, zfs 2008, 282 = VersR 2008, 67 (Tod auf Bahngleis); OLG Stuttgart v. 13.1.2011 – 7 U 42/10, zfs 2011, 463 (Amputation mit Kettensäge).
[102] BGH v. 18.3.1987 – IV a ZR 203/85, VersR 1987, 503; OLG Köln v. 26.2.2003 – 5 U 178/99, VersR 2004, 1042.
[103] Indizien, die gegen Unfreiwilligkeit sprechen, vgl. Naumann/Brinkmann, § 3 Rn 42.
[104] BGH v. 15.6.1994 – IV ZR 126/93, VersR 1994, 1055.
[105] LG Hannover v. 4.9.2009 – 2 O 118/08, r+s 2011, 130.
[107] OLG Koblenz v. 20.3.1992 – 10 U 1172/90, VersR 1993, 874.
[108] OLG Koblenz v. 20.3.1992 – 10 U 1172/90, VersR 1993, 874.
[109] OLG Saarbrücken v. 26.3.2003 – 5 U 615/02, r+s 2005, 120.
[110] OLG Köln v. 11.6.1997 – 5 U 155/96, VersR 1998, 883.
[111] OLG Oldenburg v. 14.7.1999 – 2 U 121/99, r+s 2000, 304.
[112] OLG Karlsruhe v. 30.4.1993 – 12 W 21/93, VersR 1994, 81; LG Dortmund v. 28.2.2008 – 2 O 242/07, VersR 2008, 1639; a.A. mit gleicher praktischer Konsequenz: OLG Frankfurt v. 2.12.1977 – 3 U 1977, VersR 1978, 1110 – Beweislastumkehr.

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge