Dr. Jörg Kraemer, Frank-Michael Goebel
Rz. 147
Stellt die Zwangsvollstreckung unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände für den Schuldner eine mit den guten Sitten nicht mehr zu vereinbarende Härte dar, so kann das Vollstreckungsgericht auf Antrag des Schuldners die Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO ganz oder teilweise aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen. Die Vorschrift gibt dem Vollstreckungsgericht die Möglichkeit, Verfassungsprinzipien im Vollstreckungsrecht zu berücksichtigen, indem sie das Vollstreckungsgericht bei der Auslegung des Begriffs "sittenwidrige Härte" verpflichtet, "die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen". Die nachfolgenden Ausführungen befassen sich vor diesem Hintergrund einerseits mit der Statthaftigkeit des Antrages, andererseits aber auch mit dessen Begründetheit, um Wiederholungen zu vermeiden.
Rz. 148
Hinweis
§ 765a ZPO ermöglicht dabei nur den Schutz gegen Vollstreckungsmaßnahmen, die wegen ganz besonderer Umstände eine Härte für den Schuldner bedeuten, die mit den guten Sitten nicht zu vereinbaren ist. Diese Vorschrift ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Anzuwenden ist § 765a ZPO nur dann, wenn im Einzelfall das Vorgehen des Gläubigers nach Abwägung der beiderseitigen Belange zu einem untragbaren Ergebnis führen würde. Der Gesetzgeber hat mit der restriktiven Fassung der Vorschrift klarstellen wollen, dass nicht jede Vollstreckungsmaßnahme, die für den Schuldner eine unbillige Härte bedeutet, die Anwendung der Härteklausel rechtfertigt. Die Vollstreckung soll erst an der Grenze der Sittenwidrigkeit halt machen.
Rz. 149
Die Vorschrift ist zunächst als Ausnahmevorschrift zu verstehen, ohne gänzlich subsidiär zu sein. Allerdings tritt sie dort zurück, wo der Schuldnerschutz bereits durch spezielle Schuldnerschutzvorschriften gewährleistet wird. Primär sind also beispielsweise §§ 767, 766 ZPO anzuwenden oder die Schutzvorschriften bei der Kontopfändung § 850k ZPO. Erst wenn diese Vorschriften keinen Schutz gewähren, ist § 765a ZPO anzuwenden. Soweit allerdings § 765a ZPO einerseits und die besondere Schutzbestimmung andererseits mit unterschiedlichen Begründungen verfolgt werden können, ist auch eine gleichzeitige Berufung auf beide Schutzbestimmungen möglich. Dies ist im Einzelfall zu untersuchen.
Rz. 150
Hinweis
Dabei wird aber auch im Rahmen der Prüfung von § 765a ZPO die durch andere Schutzvorschriften getroffene gesetzgeberische Grundentscheidung zu berücksichtigen sein, wie weit der Rechtsschutz gehen soll. Sie gilt auch, soweit der Gesetzgeber gerade keine besondere Schutzanordnung getroffen hat, obwohl ihm die konkrete Vollstreckungssituation nicht unbekannt geblieben sein kann.
Rz. 151
In Räumungssachen, die einen Schwerpunkt der Fälle zu § 765a ZPO bilden, ist zunächst der besondere Räumungsschutz nach § 721 ZPO zu beachten. § 765a ZPO kann aber insbesondere dann zur Anwendung kommen, wenn die in § 721 Abs. 5 ZPO genannte Höchstfrist von einem Jahr ab Rechtskraft des Urteils oder des späteren Räumungstermins im Urteil abgelaufen ist und die besondere Härte der Zwangsvollstreckung in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise andauert oder nunmehr begründet ist. In der Abwägung der Belange von Schuldner und Gläubiger wird aber die sich aus § 721 ZPO ergebende grundsätzliche Wertentscheidung des Gesetzgebers über die Länge einer Räumungsfrist zugunsten des Gläubigers zu berücksichtigen sein. Es wird insoweit immer auch zu verlangen sein, dass der Schuldner fortdauernde Bemühungen um Ersatzwohnraum oder um die sonstige Beseitigung der in seiner Sphäre begründeten besonderen Härte nachweisen kann.
Rz. 152
Tipp
Dem Schuldner kann insoweit nur empfohlen werden, die Beauftragung (mehrerer) Makler ebenso zu dokumentieren, wie die Aufgabe eigener Anzeigen und die Anrufe auf Anzeigen potentieller Vermieter. Hier sollten Name, Anschrift und Rufnummer des potentiellen Vermieters sowie Zeitpunkt und Ergebnis der eigenen Bemühungen notiert werden. Sagt der potentielle Vermieter ab, sollte versucht werden, die Absage schriftlich zu erhalten. Dies kann der Schuldner selbst vorbereiten und dem Dritten allein zur Unterschrift überlassen. Bei einer Erkrankung wird in gleicher Weise zu fordern sein, dass der Schuldner sich um deren Behandlung konsequent bemüht oder jedenfalls darauf gerichtete Hilfe in Anspruch nimmt und sich ihr öffnet. Die "besondere Härte" hatte ebenso wie die Frage nach den "guten Sitten" immer zwei Seiten der einen Antwort. Der Gläubiger muss nur dann Rücksicht nehmen, wenn der Schuldner seinerseits zeigt, dass er auf die Belange des Gläubigers Rücksicht nimmt. Auch in der Reichweite der zu treffenden Anordnungen muss insoweit der Ausnahmecharakter beachtet werden.
Rz. 153
Der Antrag kann sich immer nur gegen eine ganz konkrete Zwangsvollstreckungsmaßnahme richten. Über § 765a ZPO kann deshalb nicht generell die...