Peter Houben, Dr. iur. Martin Schimke
Rz. 1005
Die sozialversicherungsrechtlich fehlerhafte Behandlung von vermeintlich freien Mitarbeitern ("Freelancern") kann den Straftatbestand der Hinterziehung von Sozialversicherungsbeiträgen gem. § 266a StGB erfüllen (vgl. AG Augsburg v. 18.3.2015 – 25 Ls 502 Js 117099/1316 Haft auf Bewährung und Zahlung eines Bußgeldes von 120.000,00 EUR; Dilenge, DB 2015, 2271). § 266a StGB ist ein Sonderdelikt. Täter kann nur der Arbeitgeber sein (vgl. BGH v. 1.9.2020 – 1 StR 58/19, juris Rn 28). Den Scheinselbstständigen trifft das Strafverfahren nie (vgl. Spatscheck/Talaska, AnwBl. 2010, 203).
Rz. 1006
Strafbar ist gem. § 266a Abs. 1 StGB (nur) das Vorenthalten der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung. Dies bedeutet, dass bei der Beschäftigung von Scheinselbstständigen aufgrund von § 266a StGB nicht nur sozialversicherungs-, arbeits- und steuerrechtliche, sondern auch strafrechtliche Konsequenzen für Arbeitgeber, wie Geschäftsführer und Vorstände, in Rede stehen können (vgl. Reiserer, DStR 2020, 1321; Holthausen, RdA 2020, 92; Schulz, NJW 2006, 183). Dies sollte durch ein frühzeitig eingerichtetes und gut funktionierendes Management Compliance System bereits im Vorfeld verhindert sein (siehe oben Rdn 757 ff.).
Rz. 1007
Bei allen Varianten des § 266a StGB ist Vorsatz erforderlich, wobei bedingter Vorsatz ausreichend ist. Vorsätzliches Handeln ist bei pflichtwidrig unterlassenem Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a Abs. 1 und 2 StGB) nur dann anzunehmen, wenn der Täter auch die außerstrafrechtlichen Wertungen des Arbeit- und Sozialversicherungsrechts – zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre – nachvollzogen hat, er also seine Stellung als Arbeitgeber und die daraus resultierende sozialversicherungsrechtliche Abführungspflicht zumindest für möglich gehalten und deren Verletzung billigend in Kauf genommen hat (vgl. BGH v. 24.9.2019 – 1 StR 346/18, juris Ls. 1; OLG Frankfurt v. 29.1.2020 – 23 U 46/19). Eine bloße Erkennbarkeit reicht insofern nicht aus (vgl. BGH v. 8.1.2020 – 5 StR 122/19, juris Rn 6)
Rz. 1008
Praxistipp – Änderung der Rspr. des BGH
Irrt der Täter über seine Arbeitgeberstellung oder die daraus resultierende Pflicht zum Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen, liegt ein Tatbestandsirrtum vor; an seiner entgegenstehenden, von einem Verbotsirrtum ausgehenden Rechtsprechung hält der Senat nicht fest (vgl. BGH v. 24.9.2019 – 1 StR 346/18, juris Ls. 2 unter ausdrücklicher Aufgabe seiner vorherigen Rechtsprechung in BGH v. 7.10.2009 – 1 StR 478/09, juris).
Rz. 1009
Damit hat sich die Ansicht, wonach die Vorstellung des Arbeitgebers (Täters), der von ihm beschäftigte Geschädigte sei selbstständig tätig, sei ein den Vorsatz ausschließender Tatbestandsirrtum gem. § 16 Abs. 1 StGB, zu Recht durchgesetzt (vgl. LG Ravensburg v. 26.9.2006, Stv 2007, 412). Das Vorenthalten der Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung ist nicht strafbar. § 266a StGB ist zugleich Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB (vgl. Jacobi/Reufels, BB 2000, 771).
Rz. 1010
Praxistipp – Kein Freibrief durch die Änderung der Rspr.
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Die Änderung der Rspr. des BGH sollte die Verantwortlichen nicht "zum Wegschauen" veranlassen. |
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Denn ob ein Arbeitgeber seine entsprechende Stellung und das Bestehen hieraus folgender sozialversicherungsrechtlicher Abführungspflicht für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat, muss (und wird) vom Tatgericht im Rahmen der Beweiswürdigung im Einzelfall anhand der konkreten Tatumstände geklärt werden (vgl. BGH v. 24.9.2019 – 1 StR 346/18, juris Rn 25). |
Rz. 1011
Dies zeigt die Rspr. des 5. Strafsenats des BGH in einem diesbezüglichen § 266a StGB – Strafverfahren, worin der Senat ausführt (Hervorhebungen durch Verf.):
Zitat
… Vielmehr hätte der Angeklagte es in der Hand gehabt, einen (kostenlosen) Antrag nach § 7a SGB IV bei der Deutschen Rentenversicherung Bund zu stellen und auf diesem Wege, gegebenenfalls durch weitere – die Fälligkeit des Gesamtsozialversicherungsbeitrages hinausschiebende (§ 7a Abs. 6 S. 2 SGB IV) – Anrufung der Sozialgerichte, klären zu lassen, ob eine Beschäftigung im Sinne des § 7 SGB IV vorliegt. Ungeachtet des Umstands, dass die Entscheidung im sozialversicherungsrechtlichen Anfrageverfahren und selbst eine entsprechende rechtskräftige sozialgerichtliche Entscheidung im Hinblick auf das Bestehen oder Nichtbestehen eines Beschäftigungsverhältnisses rechtlich keine Bindungswirkung entfaltet, hätte der Angeklagte mit der Stellung des Antrags ein Strafbarkeitsrisiko vermeiden können (vgl. BGH v. 13.12.2018 – 5 StR 275/18, juris Rn 40).
Dies bedeutet, dass die Nichteinleitung des Statusfeststellungsverfahrens als strafrechtliches Indiz für einen bedingten Vorsatz gewertet werden kann (vgl. Uffmann, RdA 2019, 360 ff. Fn 50).
Rz. 1012
Der 1. Strafsenat des BGH nennt folgende konkrete Fallkonstellationen/Tatumstände:
Im Rahmen der (Beweis-)Würdigung der konkreten Tatumstände kann zunächst Bedeutung erlangen, wie eindeutig die Indizien sind, die – im Rahmen der außerstrafrechtl...