Peter Houben, Dr. iur. Martin Schimke
Rz. 617
Gem. § 87 Abs. 1 S. 1 AktG (i.d. Neufassung v. 5.8.2009, BGBl I, 2509 – VorstAG, unverändert geblieben in der Neufassung vom 12.12.2019 zum 1.1.2020, BGBl I, 2637 – ARUG II) hat der Aufsichtsrat (s. oben Rdn 566 ff. zur Zuständigkeit des Gesamtaufsichtsrats) in allen, d.h. in börsen- und nichtbörsennotierten, AG bei der Festsetzung der Gesamtbezüge des einzelnen Vorstandsmitgliedes – Gehalt, Gewinnbeteiligungen, Aufwandsentschädigungen, Versicherungsentgelte, Provisionen, anreizorientierte Vergütungszusagen wie z.B. Aktienbezugsrechte und Nebenleistungen jeder Art (vgl. ferner die Definition zu Gesamtbezügen in § 285 Nr. 9 HGB) – dafür zu sorgen, dass diese in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitgliedes sowie zur Lage der Gesellschaft stehen und die übliche Vergütung (= horizontale und vertikale Vergleichbarkeit) nicht ohne besondere Gründe übersteigen. Dies gilt sinngemäß gem. § 87 Abs. 1 S. 4 AktG für Ruhegehalt, Hinterbliebenenbezüge und Leistungen verwandter Art (vgl. zu Change of Control-Zusagen, unten Rdn 707 ff.; vgl. zu Abfindungszusagen/Abfindungscap, oben Rdn 583, u. unten Rdn 670 f., Rdn 700, Rdn 710; vgl. zu Zahlungen von einem Aktionär an den Vorstand – sog. Drittvergütung als Vergütungsbestandteil im Sinne von § 87 AktG, Bosse, Handbuch Vorstandsvergütung, S. 153).
Rz. 618
Zusätzlich ist bei börsennotierten Aktiengesellschaften zu beachten, dass aufgrund der Finanzmarktkrise 2008 mit dem VorstAG im Jahre 2009 eine Reihe von Besonderheiten für die Vergütung von Vorstandsmitgliedern eingeführt wurden, die durch das ARUG II mit Wirkung zum 1.1.2020 erweitert wurden.
Rz. 619
Die Vergütungsstruktur ist seit dem 1.1.2020 gem. § 87 Abs. 1 S. 2 AktG bei börsennotierten Gesellschaften auf eine nachhaltige und langfristige Entwicklung der Gesellschaft auszurichten (eingefügt in § 87 Abs. 1 S. 2 AktG durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie [ARUG II] vom 12.12.2019, BGBl I, 2637). Die vorherige Formulierung des § 87 Abs. 1 S. 2 AktG nach dem VorstAG enthielt nicht das Kriterium der Langfristigkeit und lautete in der Gegenüberstellung:
Zitat
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alt: (war "nur")…auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung auszurichten. |
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… neu: (ist)…auf eine nachhaltige und langfristige Unternehmensentwicklung auszurichten. |
Rz. 620
Hinweis
"Umsetzung der Ausrichtung auf eine nachhaltige und langfristige Unternehmensentwicklung"
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Aufteilung der Gesamtvergütung auf fixe/monatliche und variable Bestandteile, |
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Aufteilung der variablen Vergütung auf jährliche (short term incentive) sowie |
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mehrjährige (long term incentive) oder weitere Bestandteile, |
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zeitliche Aufschiebung des long term incentive sowie |
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Verhältnis von fixer zu variabler Vergütung incl. einer gewissen Deckelung/Cap. |
Rz. 621
Variable Vergütungsbestandteile sollen nach § 87 Abs. 1 S. 3 Hs. 1 AktG eine mehrjährige Bemessungsgrundlage haben. Für außerordentliche Entwicklungen soll gem. § 87 Abs. 1 S. 3 Hs. 2 AktG der Aufsichtsrat eine Begrenzungsmöglichkeit vereinbaren (Tantieme-Cap). Die Soll-Vorschrift des § 87 Abs. 1 S. 3 Hs. 2 AktG mit der Begrenzungsmöglichkeit bei der variablen Vergütung ist nicht zu verwechseln mit der zwingend erforderlichen Festlegung der Maximalvergütung für Vorstandsmitglieder nach der neu durch das ARUG II eingefügten Vorschrift des § 87a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AktG (Vergütungssystem börsennotierter Gesellschaften).
Rz. 622
Zusätzliche Besonderheiten gelten bei Banken und Versicherungen (vgl. § 25a Abs. 5 KWG, § 25 VAG, sowie die InstitutsVergV und die VersVergV, www.bafin.de; vgl. ferner Louven/Raapke, VersR 2012, 257; Simon/Koschker, BB 2011,120; Annuß/Sammet, BB 2011,115). In der Präambel zum Deutschen Corporate Governance Kodex in der Fassung, die am 20.3.2020 in Kraft getreten ist, ist in der Schlusspassage ausdrücklich festgehalten, dass sich aus dem jeweiligen Aufsichtsrecht Besonderheiten ergeben, die im Kodex nicht berücksichtigt sind.
Rz. 623
Die vom Aufsichtsrat gem. § 87 Abs. 1 AktG zu beachtenden Parameter stellen kein abschließendes Prüfungsmuster dar. Die Angemessenheitsprüfung des Aufsichtsrats darf zusätzlich eine Vielzahl angebots- und nachfrageorientierter, materieller Kriterien, das Kriterium der Üblichkeit der Vergütung für vergleichbare Funktionen sowie das Kriterium des optimierten Leistungsanreizes und Steuerungseffektes berücksichtigen (vgl. OLG München v. 7.5.2008 – 7 U 5618/07 m.w.N., AG 2008, 593). Allerdings haben alle zusätzlich zu den gesetzlichen Kriterien zur Anwendung kommenden Kriterien den Vorrang der gesetzlich in § 87 Abs. 1 AktG normierten Kriterien zu berücksichtigen. Insb. steht § 87 Abs. 1 AktG der Anwendung von Vergütungskriterien entgegen, die geeignet sind, die gesetzlichen Vorgaben für die Bemessung der Bezüge zu beeinträchtigen oder zu gefährden (vgl. OLG München v. 7.5.2008 – 7 U 5618/07, AG 2008, 593: Abhängigkeit der variablen Vergütung i.H.v. 80 % vom Kurs der Konzernmuttergesellschaft RWE AG).