Peter Houben, Dr. iur. Martin Schimke
Rz. 1456
Hat die Prüfung ergeben, dass verbindliche Beschränkungen der Arbeitszeithoheit oder der Freiheit der Tätigkeitsgestaltung vorliegen, die auf dem Parteiwillen beruhen und die der Tätigkeit eines Handelsvertreters als selbstständigem Gewerbetreibenden nicht immanent sind, so sind diese Beschränkungen nach ihrem Umfang zu gewichten. Für die Annahme der Eigenschaft als Handelsvertreter muss jedes der beiden Merkmale des § 84 Abs. 1 S. 2 HGB im Wesentlichen erfüllt sein. Es reicht also weder aus, dass nur eines erfüllt ist, noch verlangt das Gesetz, dass der Handelsvertreter in der Gestaltung seiner Arbeitszeit und Tätigkeit völlig frei ist (ArbG Nürnberg v. 12.5.1998 – 3 Ca 4547/95, EversOK Ls. 31 a.E.; ArbG Bonn v. 31.1.1996 – 5 Ca 2747/95, EversOK Ls. 8). Gewisse Einschränkungen der freien Bestimmbarkeit sind also durchaus möglich, ohne dass dadurch der Status eines Selbstständigen tangiert werden würde (LAG Hamm v. 28.4.2006 – 2 Ta 871/05, EversOK Ls. 3; ArbG Göttingen v. 5.2.1998 – 1 Ca 661/96, EversOK Ls. 7). Die Beschränkung der Grundfreiheit darf aber nicht so weit gehen, dass die Selbstständigkeit des Handelsvertreters in ihrem Kerngehalt beeinträchtigt ist (BAG v. 30.8.1994, EversOK Ls. 8 = NZA 1995, 649; LAG Düsseldorf v. 3.3.1998 – 8 Sa 1801/96, EversOK Ls. 17; LAG Hessen v. 10.7.1987 – 6 Sa 362/87, EversOK Ls. 3; LAG Hamm v. 28.4.2006 – 2 Ta 871/05, EversOK Ls. 3; OLG Düsseldorf v. 5.12.1997, EversOK Ls. 17 = NZA-RR 98, 145; OLG Düsseldorf v. 4.7.1997 – 16 W 18/97, EversOK Ls. 19; LSG Berlin-Brandenburg v. 18.9.2020 – L 1 BA 55/18, EversOK Ls. 39; LSG Baden-Württemberg v. 22.1.2016 – L 4 R 2796/15, EversOK Ls. 25). Die Frage, ob dies der Fall ist, setzt eine kombiniert qualitativ-quantitative Gewichtung der einzelnen statusrelevanten Beschränkungen voraus.
Rz. 1457
Sofern die Beschränkungen jeweils für sich betrachtet den Kernbereich der Selbstständigkeit unberührt lassen, ist unter Berücksichtigung des Gewichtes der einzelnen Beschränkungen zu prüfen, ob sie im Zusammenwirken dazu führen, dass auch nur eine der beiden Grundfreiheiten des § 84 Abs. 1 S. 2 HGB wesentlich beschränkt wird. Leitlinie für die vorzunehmende Gesamtwürdigung sind dabei die Spielräume, die bestehen würden, wenn die konkreten, aufgrund des Vertrages oder des Weisungsrechtes gegebenen Beschränkungen nicht bestünden, die in die Betrachtung einzubeziehen sind (LAG Nürnberg v. 26.1.1999, EversOK Ls. 65 = BB 1999, 793). Entscheidend ist, ob bei einer zusammenfassenden Betrachtung des Vertragsverhältnisses die durch § 84 Abs. 1 S. 2 HGB vorgegebene überwiegende Gestaltungsfreiheit im Vordergrund steht und sie dem Vertrag das Gepräge gibt (LAG Düsseldorf v. 22.5.1991 – 5 TaBV 132/90, EversOK Ls. 18). Ist demgegenüber eines der beiden Merkmale oder sind beide Merkmale des § 84 Abs. 1 S. 2 HGB nicht erfüllt, gilt die Vertriebsperson gem. § 84 Abs. 2 HGB als Arbeitnehmer (LAG Nürnberg v. 26.1.1999, EversOK Ls. 66 = BB 1999, 793).
Rz. 1458
Bei der wertenden Betrachtung bestehender Beschränkungen ist zu berücksichtigen, dass eine Einschränkung der Grundfreiheiten des § 84 Abs. 1 S. 2 HGB an Gewicht verlieren kann, wenn der Vertriebsperson die Erfüllung der sie beschränkenden Pflicht durch die Hinzuziehung von Hilfspersonen gestattet ist (BSG v. 29.1.1981, EversOK Ls. 21 = BSGE 51, 164; OLG Düsseldorf v. 5.12.1997, EversOK Ls. 8 = NZA-RR 1998, 145; OLG München v. 9.2.1993, EversOK Ls. 2; ArbG Reutlingen v. 19.3.1997, EversOK Ls. 10; LAG Baden-Württemberg v. 26.10.1990, EversOK Ls. 18 = BB 1999, 793). Es ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass vertraglichen Regelungen, nach denen sich der Unternehmer vorbehält, für die Beratungstätigkeit im Finanzdienstleistungsbereich vorgesehene Hilfspersonen auf fachliche Eignung zu prüfen, keine Statusrelevanz beigemessen wird (OLG Frankfurt am Main v. 16.9.2013 – 15 W 79/11, EversOK Ls. 12; LAG Hessen v. 25.10.2010 – 7 Sa 163/10, EversOK Ls. 8). Soweit für einen Handelsvertreter an sich zulässige Beschränkungen nicht vereinbart sind, z.B. keine Beschränkung der Tätigkeit für konkurrierende Unternehmer oder aus dem Gesetz ableitbare Pflichten des Handelsvertreters ausdrücklich abbedungen sind, wie etwa die Entbindung von der Anzeigepflicht im Urlaubs- oder Krankheitsfall, können diese Umstände wiederum bestehende Beschränkungen i.R.d. Gesamtabwägung kompensieren (LAG Nürnberg v. 26.1.1999, EversOK Ls. 64 = BB 1999, 793). Räumt der Vertrag dem Handelsvertreter das Recht ein, sein einzelkaufmännisches Unternehmen in eine Personen- oder Kapitalgesellschaft umzuwandeln, so ist dies mit dem Status eines persönlich abhängigen Arbeitnehmers unvereinbar (LAG Hessen v. 25.10.2010 – 7 Sa 163/10, EversOK Ls. 10 – FORMAXX 1).
Rz. 1459
Eine Kompensation ist dagegen nicht möglich, wenn eine Beschränkung bereits in den Kernbereich der Selbstständigkeit des Handelsvertreters eingreift. Dies wäre bspw. der Fall, wenn der Prinzipal bezogen auf den Geschäftsbetrieb der Vertriebsperson ein unbeschränktes Revis...