Rz. 660

Das recht praxisrelevante "Modell der vorzeitigen Wiederbestellung", wonach der Aufsichtsrat im Einzelfall auch schon früher als ein Jahr vor Ablauf der Amtszeit eine Neubestellung des Vorstandsmitgliedes nach einvernehmlicher Amtsniederlegung vornimmt, wurde mangels einer höchstrichterlichen Klärung der Zulässigkeit lange kontrovers diskutiert. Vielfach wurde darin eine unzulässige Umgehung des § 84 Abs. 1 S. 3 AktG gesehen (vgl. OLG Zweibrücken v. 3.2.2011 – 4 U 76/10, NZG 2011, 433 = DB 2011, 1039; Mertens, Kölner Kommentar zum AktG, § 84 Rn 18; Kort, in: GroßKommAktG, § 84 Rn 114; Fleischer/Thüsing, Handbuch Vorstandsrecht, § 4 Rn 43; Semler/Peltzer/Peltzer, Arbeitshandbuch für Vorstandsmitglieder, § 2 Rn 87; Liebscher, in: Beck’sches Handbuch der AG, § 6 Rn 28; Götz, AG 2002, 305, 306; zum Meinungsstand bis zur BGH-Entscheidung v. 16.7.2012; Happ, Aktienrecht, 8.03 Rn 5.8 m.w.N.).

 

Rz. 661

Der BGH hat mit Urt. v. 17.7.2012 – II ZR 55/11 (DB 2012, 2253 = AG 2012, 677) klargestellt, dass die vorzeitige Wiederbestellung von Vorstandsmitgliedern auch ohne Vorliegen besonderer Umstände zulässig ist. Sowohl die Gesetzgebungsgeschichte als auch der Sinn und Zweck des § 84 Abs. 1 AktG lassen nach Auffassung des BGH diese Möglichkeit zu. Im Deutschen Corporate Governance Kodex wurde bisher versäumt, dies anzupassen. Dies kann ein Risiko bei der Entsprechenserklärung bedeuten.

 

Rz. 662

 

Hinweis zum "überraschenden" und "leicht zu übersehenden" Risiko bei Abgabe einer unzutreffenden Entsprechenserklärung

1. Der Deutsche Corporate Governance Kodex (www.dcgk.de) sieht in der Empfehlung B. 4 (S. 7) vor, dass eine Wiederbestellung vor Ablauf eines Jahres vor dem Ende der Bestelldauer bei gleichzeitiger Aufhebung der laufenden Bestellung nur bei Vorliegen besonderer Umstände erfolgen soll.
2. Diese besonderen Umstände sind nach der aktuellen BGH-Rspr. (vgl. BGH v. 16.7.2012 – II ZR 55/11, DB 2012, 2253 = AG 2012, 677) nicht (mehr) erforderlich.
3. Die vom Kodex gesetzte Hürde, die sich an der früheren Rechtslage orientiert, ist daher im Rahmen der Entsprechenserklärung (§ 161 AktG) höher als die Anforderungen des BGH.
4. Das ist überraschend und kann daher bei der Entsprechenserklärung leicht übersehen werden, da nicht Sinn und Zweck des Kodex ist, größere Anforderungen als die Gesetzeslage es erfordert aufzustellen!
5. Daher wäre eine baldige Kodex- Angleichung an die BGH-Rechtsprechung in der Empfehlung B. 4 (S. 7) des Kodex sinnvoll und zu empfehlen (vgl. Kunz, BOARD 2015, 91, 93).
 

Rz. 663

Möglich bleibt nach der Entscheidung des BGH (v. 16.7.2012, DB 2012, 2253 = AG 2012, 677), dass im Einzelfall das Verfahren der vorzeitigen Wiederbestellung rechtsmissbräuchlich sein könnte. Der BGH hat ausgeführt, dass im vorliegenden Fall Gründe, aus denen die Wiederbestellung im konkreten Fall rechtsmissbräuchlich hätte sein können, nicht ersichtlich waren. Dass der neue Aufsichtsrat durch die Entscheidung gebunden wird, mache sie nicht unzulässig. Denn der neue Aufsichtsrat in seiner jeweiligen personellen Zusammensetzung habe kein Recht, den Vorstand ohne Rücksicht auf die Laufzeit der Bestellungen mit Mitgliedern seines Vertrauens zu besetzen. Das Beispiel des BGH bedeutet, dass die in der Praxis relevante Verfahrensweise der vorzeitigen Wiederbestellung nach einvernehmlicher Amtsniederlegung mit dem Ziel der Bindung eines oder mehrerer für die AG besonders wichtiger Topmanager als Vorstandsvorsitzenden oder Vorstandsmitglied regelmäßig zulässig ist.

 

Rz. 664

 

Hinweis (zur vorzeitigen Wiederbestellung von Vorstandsmitgliedern)

1. Die Praxis zeigt, wie umworben die überschaubare Zahl herausragender Führungspersönlichkeiten ist, und welche Bedeutung einzelne Personen für das Wohl und Wehe der AG haben können.
2. Wenn konkret wird, dass einer oder mehrere Vorstände dieser Kategorie abzuwandern drohen – möglicherweise zur direkten Konkurrenz – muss der Aufsichtsrat handeln.
3. Bei seiner Entscheidung hat der Aufsichtsrat auch das mögliche Verhalten von kreditgebenden Banken ist zu beachten, ob deren Vertrauen an bestimmte besonders erfahrene Personen im Vorstand gebunden ist, und was deren Ausscheiden für die AG bedeuten könnte.
4. Hinzu kommt: Vielfach gilt am Markt die Regel "Wenn der Kopf geht, folgt das Team". Der Aufsichtsrat hat unbedingt vorausschauend über die Konsequenzen zu befinden, welche Risiken und Schäden für die AG drohen, wenn bspw. in einer für die AG entscheidenden Restrukturierungsphase das ganze Restrukturierungs-Team nach und nach und wettbewerbsrechtlich unangreifbar die AG verlässt.
5. Berücksichtigt der Aufsichtsrat diese Komplexität der Zusammenhänge bei seiner Entscheidung nicht, begeht er eine Pflichtverletzung.
 

Rz. 665

Nur im Ausnahmefall ist angesichts der neuen Rechtslage eine Unwirksamkeit bei der vorzeitigen Wiederbestellung auszugehen. Diese kann dann gegeben sein, wenn der Aufsichtsrat von einem Recht, das ihm zusteht, im Einzelfall einen rechtsmissbräuchlichen Gebrauch macht. Bezieht sich der ...

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