Rz. 789

Nach st. Rspr. ist die – nunmehr in § 611a Abs. 1 S. 4 BGB aufgenommene – Frage, wer Arbeitnehmer oder freier Mitarbeiter ist, letztlich nach dem Gesamtbild der Verhältnisse zu beurteilen (vgl. OLG München v. 20.3.2014 – 7 W 315/14; LSG Hessen v. 17.12.2009 – L 8 KR 245/07; BAG v. 19.11.1997 – 5 AZR 653/96, DB 1998, 624 = NZA 1998, 364; BAG v. 9.5.1996, DB 1996, 2033 = NZA 1996, 1145). Dies bedeutet, dass die für und gegen den Arbeitnehmerstatus sprechenden Umstände im Wege einer Gesamtbetrachtung gem. § 611a Abs. 1 S. 5 BGB umfassend gegeneinander abgewogen werden müssen (vgl. BAG v. 30.11.2021 – 9 AZR 145/21, juris Rn 30). Es kommt auf eine Gesamtwürdigung und Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalles an (vgl. BAG v. 1.12.2020 – 9 AZR 102/20, juris Ls.u. Rdn 31 Crowdworker; BAG v. 11.8.2015 – 9 AZR 98/14; BAG v. 21.7.2015 – 9 AZR 484/14; BAG v. 21.11.2013 – 6 AZR 23/12; BAG v. 25.9.2013 – 10 AZR 282/12; BAG v. 15.2.2012 – 10 AZR 301/10, B 2012, 1342 = NZA 2012, 731; BAG v. 9.6.2010, NZA 2010, 877 = DB 2010, 1830; BAG v. 26.5.1999, DB 1999, 1704 = NZA 1999, 983; BAG v. 6.5.1998, BB 1998, 1849, NZA 1998, 873).

 

Rz. 790

Bei der Gesamtwürdigung ist die von der Rechtsprechung des BAG entwickelte sog. typisierende Betrachtungsweise zu berücksichtigen. Kann die vertraglich vereinbarte Tätigkeit typologisch sowohl in einem Arbeitsverhältnis als auch selbstständig erbracht werden, ist die Entscheidung der Vertragsparteien für einen bestimmten Vertragstypus i.R.d. bei jeder Statusbeurteilung erforderlichen Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (vgl. BAG v. 21.5.2019 – 9 AZR 295/18, juris Rn 38; BAG v. 27.6.2017 – 9 AZR 851/16; BAG v. 11.8.2015 – 9 AZR 98/14; BAG v. 9.6.2010 – 5 AZR 332/09, NZA 2010, 877 = DB 2010, 1830).

 

Rz. 791

 

Praxishinweis

1. Der Vorrang der tatsächlichen Handhabung der Vertragsbeziehungen vor der formalen Vertragstypenwahl durch die Parteien bedeutet nicht, dass die Entscheidung der Parteien für eine bestimmte Art von Vertrag irrelevant wäre.
2. Wenn die vertraglich vereinbarte Tätigkeit typologisch in dem einen oder anderen Verhältnis erbracht werden kann, ist dies bei der Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen.
3. Zu beachten sind dabei stets die Besonderheiten der jeweiligen Berufsgruppe (vgl. im Einzelnen ausführlich das Berufsgruppenlexikon von A bis Z, unten Rdn 1067 ff.).
4. Mischformen zwischen selbstständiger und unselbstständiger Tätigkeit können im Einzelfall zulässig sein.

Bei typisierender Betrachtungsweise ist beispielsweise i.d.R. Arbeitnehmer, wer an einer allgemeinbildenden Schule unterrichtet, auch wenn er seinen Beruf nebenberuflich ausübt. Dagegen können etwa Volkshochschuldozenten, die außerhalb schulischer Lehrgänge unterrichten oder Lehrkräfte, die nur Zusatzunterricht erteilen, auch als freie Mitarbeiter beschäftigt werden (vgl. BAG v. 20.1.2010 – 5 AZR 106/09, NZA 2010, 840 = DB 2010, 964 m.w.N.; LAG Schleswig-Holstein v. 3.2.2011 – 4 Sa 234/10). Entscheidend ist, wie intensiv die Lehrkraft in den Unterrichtsbetrieb eingebunden ist, in welchem Umfang sie den Unterrichtsinhalt, die Art und Weise der Unterrichtserteilung, ihre Arbeitszeit und die sonstigen Umstände der Dienstleistung mitgestaltet und inwieweit sie zu Nebenarbeiten herangezogen werden kann (vgl. BAG v. 15.2.2012 – 10 AZR 301/10, B 2012, 1342 = NZA 2012, 731). Nach der jüngsten Rechtsprechung des BAG sind auch Mischformen bei Einhaltung der Voraussetzungen rechtlich zulässig, wonach eine Musiklehrerin zum Land gleichzeitig sowohl in einem Arbeits- als auch in einem Dienstverhältnis für die gleiche Tätigkeit stehen kann. Ein Nebeneinander von Arbeits-und Dienstvertrag ist rechtlich nicht ausgeschlossen (vgl. BAG v. 27.6.2017 – 9 AZR 851/16) → s. unten Rdn 808.

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