Peter Houben, Dr. iur. Martin Schimke
1. Überblick
Rz. 1438
Die Frage, ob ein Vertreter als Handelsvertreter oder als angestellte Vertriebskraft, also als Handlungsgehilfe i.S.d. § 59 HGB oder als ein für ein Nichthandelsgewerbe beschäftigter Gewerbegehilfe tätig ist, wurde unter den Stichwörtern "Scheinselbstständigkeit" und "Flucht aus dem Arbeitsrecht" intensiv diskutiert, fand aber nur ein vorläufiges Ende mit den Entscheidungen des BAG vom 15.12.1999 (vgl. z.B. die Beiträge von Wank, DB 1992, 90 ff.; Meisterernst, BRAK-Mitt. 1996, 157 ff.; Abrahamczik, DStR 1996, 184 ff.; v. Einem, BB 1994, 60; ArbG Nürnberg, 31.7.1996 – 2 Ca 4546/95, EversOK Ls. = NZA 1997, 37 ff.; ArbG Nürnberg v. 12.5.1998 – 3 Ca 4547/95, EversOK Ls. 10; LAG Köln v. 30.6.1995, EversOK Ls. = LAGE § 611 BGB Arbeitnehmerbegriff Nr. 29; BAG v. 15.12.1999, EversOK Ls. = DB 2000, 1618). Zuvor hatten Instanzgerichte in Abweichung von den bis dahin geltenden Kriterien bei Vertriebskräften der Versicherungsbranche eine Arbeitnehmereigenschaft angenommen. Nachdem der Gesetzgeber dem Problemkreis zunächst mit dem Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit und später mit dem Gesetz zur Förderung der Selbstständigkeit begegnete, wurden diese Gesetze mit der Einführung der Hartz-Reformen durch die Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt im Jahr 2003 wieder aufgehoben.
Rz. 1439
Noch immer hat die gerichtliche Einstufung eines Vertreterverhältnisses als Arbeitsverhältnis wegen der damit verbundenen Konsequenzen in steuer-, sozialversicherungs- und arbeitnehmerschutzrechtlicher Hinsicht eine zentrale Bedeutung im Recht der Vertriebspersonen (vgl. zu den Konsequenzen im Einzelnen § 16 Rdn 809 ff.). Betroffen sind vor allem die Bereiche des Vertriebs von Versicherungen und Finanzdienstleistungen (vgl. etwa BAG v. 9.6.2010 – 5 AZR 332/09, EversOK Ls. = NJW 2010, 2455; OLG Karlsruhe v. 13.2.2013 – 13 U 50/11, EversOK Ls.; OLG München v. 9.12.2019 – 7 W 1470/19, EversOK; LAG Düsseldorf v. 15.12.2011 – 15 Ta 565/11, EversOK Ls.; LAG Hessen v. 4.1.2019 – 3 Ta 309/18, EversOK Ls.; LAG Hessen v. 25.10.2010 – 7 Sa 163/10, EversOK Ls.; LAG Bremen v. 2.4.2008 – 2 Sa 264/06, EversOK Ls.; LAG Rheinland-Pfalz v. 30.11.2007 – 9 Sa 532/07, EversOK Ls.; LAG Hamm v. 28.4.2006 – 2 Ta 871/05, EversOK Ls. 3), der Anzeigenwerbung für Telefon- und Adressbuchverlage (LSG Nds.-Bremen v. 26.4.2006 – L 4 KR 57/02, EversOK Ls.; LSG Thüringen v. 19.12.2005 – L 6 KR 959/02, EversOK Ls.), der Straßen- und Haustürwerber (LSG Hamburg v. 24.3.2021 – L 2 U 41/18, EversOK Ls.; LSG Schleswig-Holstein v. 28.10.2020 – L 5 KR 6/17, EversOK Ls.), der Generierung von Leads (LSG Hamburg v. 26.1.2021 – L 3 BA 25/19, EversOK), des stationären Vertriebs (Bay. LSG v. 28.6.2005 – L 5 KR 109/04, EversOK Ls.), des Vertriebs von Photovoltaikanlagen (LAG Köln v. 13.2.2019 – 9 Ta 229/18, EversOK Ls.) und des Franchising (LAG Bremen v. 21.2.2007 – 2 Sa 206/05, EversOK Ls.).
Rz. 1440
Für die Frage der Abgrenzung des Handelsvertreters vom Handlungsgehilfen ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber den Begriff der Selbstständigkeit, der beide kaufmännischen Hilfspersonen gem. § 84 Abs. 2 HGB unterscheidet, in der Vorschrift des § 84 Abs. 1 S. 2 HGB definiert hat. Diese Legaldefinition (BAG v. 24.3.1992, EversOK Ls. = DB 1992, 2352) nennt die Kriterien, nach denen die Abgrenzung zu erfolgen hat. Zwar sind alle Umstände des Falles in Betracht zu ziehen und schließlich in ihrer Gesamtheit zu würdigen. Die heranzuziehenden Anknüpfungspunkte müssen sich jedoch diesen gesetzlichen Unterscheidungsmerkmalen zuordnen lassen (BAG v. 20.8.2003 – 5 AZR 610/02, EversOK Ls. 7 = NJW 2004, 461). Danach ist selbstständig nur diejenige Vertriebsperson, die ihre Tätigkeit im Wesentlichen frei gestalten und ihre Arbeitszeit selbst bestimmen kann. Ist ihr dies nicht möglich, weist ihr das Gesetz den Status eines Angestellten zu (§ 84 Abs. 2 HGB).
Rz. 1441
Trotz der Vorschrift des § 84 Abs. 1 S. 2 HGB haben Rspr. und Literatur zahlreiche Kriterien für die Beantwortung der Statusfrage entwickelt. Unterschieden werden dabei formelle und materielle Abgrenzungskriterien (Schaub, ArbRHB, § 8 Rn 9; im Überblick bei Reiserer/Freckmann, NJW 2003, 180; BAG v. 21.1.1966, AP Nr. 2 zu § 92 HGB; LAG Hamm v. 11.5.2000 – 4 Sa 1694/98, EversOK Ls. 24). Als formelle oder unechte Kriterien werden die äußeren Gestaltungsmerkmale bezeichnet, die sich in der vertraglichen Bezeichnung oder der rechtlichen Behandlung der Vertriebsperson, z.B. hinsichtlich der Steuern oder der Schutzvorschriften, niederschlagen (BAG v. 21.1.1966, EversOK Ls. 7 = BAGE 18, 87; BAG v. 9.6.1993, EversOK Ls. = NZA 1994, 169; ArbG Siegen v. 18.2.1997 – 1 Ca 1896/96, EversOK Ls. 11; LAG Baden-Württemberg v. 30.1.1996 – 5 Ta 16/95, EversOK Ls. 3; LAG Nürnberg v. 24.2.1993 – 4 (2) Sa 403/91, EversOK Ls. 6; LAG Saarland v. 14.5.1996 – 3 (1) Sa 257/95, EversOK Ls. 4; ArbG Frankfurt am Main v. 1.12.1986 – 1 Ca 181/86, EversOK Ls. 3; ArbG Ulm v. 13.8.1996 – 2 Ca 271/95, EversOK Ls. 5).
Rz. 1442
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