Peter Houben, Dr. iur. Martin Schimke
1. Rechtliche Grundlagen
Rz. 1015
Die Abgrenzung, ob es sich um echte Selbstständigkeit oder Scheinselbstständigkeit handelt, erfolgt im Steuerrecht – nicht über den Arbeitnehmerbegriff des § 611a BGB und auch nicht über den Beschäftigtenbegriff des §7a SGB IV – über den Unternehmerbegriff in § 2 UStG und den Arbeitnehmerbegriff in § 1 LStDV (vgl. BFH v. 18.6.2015 – VI R 77/12, juris Rn 11, sowie die differenzierende Übersicht der Unterschiede im Steuer-, Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht des LSG Niedersachsen-Bremen v. 10.12.2021 – S 52 BA 3/20 ER WA, S. 7).
Rz. 1016
Der zum 1.4.2017 neu eingeführte § 611a BGB gilt nicht im Steuerrecht (s. oben Rdn 768 ff.). Ebenso wenig gilt § 7 Abs. 1 SGB IV im Steuerrecht (s. oben Rdn 870 ff.). Nach ständiger Rechtsprechung des BFH unterscheiden sich der sozialversicherungsrechtliche und der arbeitsrechtliche Arbeitnehmerbegriff von dem einkommensteuerrechtlichen Arbeitnehmerbegriff und müssen jedenfalls nicht deckungsgleich sein (vgl. BFH v. 9.7.2012 – VI B 38/12). Die sozial- und arbeitsrechtliche Einordnung der Tätigkeit als selbstständig oder unselbstständig kann indes ein Indiz sein (vgl. BFH v. 21.6.2017 – V R 29/16; BFH v. 10.3.2005 – V R 29/03).
Rz. 1017
Nach der Rechtsprechung des BFH gibt es für das Steuerrecht konkrete Ansatzpunkte für die Abgrenzung zwischen selbstständiger und nichtselbstständiger Beschäftigung im UStG und in der LStDV. § 2 Abs. 2 Nr. 1 UStG enthält eine Negativ-Definition, wann jemand nicht selbstständig ist. Danach wird "die berufliche Tätigkeit nichtselbstständig ausgeübt, soweit natürliche Personen, einzeln oder zusammengeschlossen, einem Unternehmen so eingegliedert sind, dass sie den Weisungen des Unternehmers zu folgen verpflichtet sind" (vgl. BFH v. 21.6.2017 – V R 29/16; BFH v. 11.11.2015 – V R 3/15). Daneben definiert § 1 Abs. 3 LStDV, dass derjenige,
wer … sonstige Leistungen innerhalb der von ihm selbstständig ausgeübten gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit … gegen Entgelt ausführt, …
kein Arbeitnehmer ist und verweist somit auf den Arbeitnehmerbegriff des Steuerrechts. Arbeitnehmer sind nach § 1 Abs. 1 LStDV
Personen, die in öffentlichem oder privatem Dienst angestellt oder beschäftigt sind oder waren und die aus diesem Dienstverhältnis oder einem früheren Dienstverhältnis Arbeitslohn beziehen. Arbeitnehmer sind auch die Rechtsnachfolger dieser Personen, soweit sie Arbeitslohn aus dem früheren Dienstverhältnis ihres Rechtsvorgängers beziehen.
Nach § 1 Abs. 2 S. 1 und 2 LStDV liegt ein solches lohnsteuerpflichtiges Dienstverhältnis (= Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit) dann vor,
wenn der Angestellte (Beschäftige) dem Arbeitgeber (öffentliche Körperschaft, Unternehmer, Haushaltsvorstand) seine Arbeitskraft schuldet. Dies ist der Fall, wenn die tätige Person in der Betätigung ihres geschäftlichen Willens unter der Leitung des Arbeitgebers steht oder im geschäftlichen Organismus des Arbeitgebers dessen Weisungen zu folgen verpflichtet ist.
Rz. 1018
Nach der st. Rspr. des BFH legt § 1 Abs. 2 S. 1 und 2 LStDV den Arbeitnehmerbegriff zutreffend aus. Dies bedeutet, dass die Abgrenzung zwischen selbstständiger und unselbstständiger Tätigkeit für das Steuerrecht über den Arbeitnehmerbegriff i.S.d. § 1 Abs. 2 S. 1 u. 2 LStDV erfolgt. § 1 Abs. 2 S. 1 und 2 LStDV beschreiben die Merkmale, anhand derer zu entscheiden ist, ob Arbeit nichtselbstständig (§ 19 Abs. 1 EStG), d.h. von einem Arbeitnehmer erbracht, oder selbstständig, d.h. von einem freien Mitarbeiter, geleistet wird (vgl. BFH in st. Rspr., BFH v. 18. 6.2015 – VI R 77/12; BFH v. 25.6.2009 – V R 37/08; BFH v. 20.11.2008 – VI R 4/06, NZA 2009, 250 = DStR 2009, 263; BFH v. 22.7.2008, DB 2008, 2230, BFH v. 29.5.2008, DB 2008, 1952 = BB 2008, 1759; BFH v. 6.3.2008, BFH/NV 2008, 957, jeweils m.w.N.; vgl. ferner das Grundsatzurteil des BFH v. 14.6.1985, DB 1985, 2489 = BStBl II 1985, 661: Werbedamen mit den Merkmalen persönliche Abhängigkeit, Weisungsgebundenheit hinsichtlich Ort, Zeit und Inhalt der Tätigkeit etc.).
Rz. 1019
Für eine nichtselbstständige Tätigkeit können bspw. insb. persönliche Abhängigkeit, Weisungsgebundenheit, feste Arbeitszeiten und Bezüge, Anspruch auf Urlaub und auf sonstige Sozialleistungen, Überstundenvergütung sowie Fortzahlung der Bezüge im Krankheitsfall sprechen. Für persönliche Selbstständigkeit hingegen sprechen Selbstständigkeit in der Organisation und der Durchführung der Tätigkeit, Unternehmerinitiative, Bindung nur für bestimmte Tage an den Betrieb, geschäftliche Beziehungen zu mehreren Vertragspartnern sowie Handeln auf eigene Rechnung und Eigenverantwortung (vgl. BFH v. 22.2.2012 – X R 14/10; BFH v. 20.10.2010 – VIII R 34/08, NZA 2011, 502 = GmbHR 2011, 313).
Rz. 1020
Dabei lässt sich der steuerrechtliche Arbeitnehmerbegriff nicht durch Aufzählung feststehender Merkmale abschließend bestimmen. Das Gesetz bedient sich nicht eines tatbestandlich scharf umrissenen Begriffes. Es handelt sich vielmehr um einen offenen Typusbegriff, der nur durch eine größere und unbestimmte Z...