Peter Houben, Dr. iur. Martin Schimke
1. Gleichklang oder Dreiklang des Arbeitnehmerbegriffs?
Rz. 1057
Übergreifend für das Arbeitsrecht, Steuerrecht und Sozialversicherungsrecht ist für alle drei Rechtsgebiete der gemeinsame Ansatzpunkt zur Abgrenzung des Arbeitnehmers vom (selbstständigen) Freien Mitarbeiter die Anknüpfung an der Arbeitnehmereigenschaft, d.h. die persönliche Abhängigkeit. Trotz des Fehlens einer einheitlichen und rechtsübergreifenden Legaldefinition mit klaren Abgrenzungskriterien gibt es eine gewisse Annäherung der Begriffsbestimmung in der Rspr. der Arbeits-, Sozial- und Finanzgerichte.
Rz. 1058
Dabei soll nicht verkannt werden, dass der Arbeitnehmerbegriff grds. nicht (vollständig) deckungsgleich im Arbeits-, Steuer- und Sozialversicherungsrecht ist (vgl. BAG v. 30.11.2021 – 9 AZR 145/21, juris Rn 56/57 nicht ausschlaggebend; vgl. BSG v. 4.6.2019 – B 12 R 11/18 R, juris Rn 19 kein völliger Gleichklang; vgl. ferner die instruktive Übersicht der Unterschiede der drei Rechtsgebiete in: LSG Niedersachsen-Bremen v. 19.1.2021 – L 1 BA 61/20 B ER, S.7, www.sozialgerichtsbarkeit.de); vgl. BFH v. 9.7.2012 -VI B 38/12, juris keine Bindung; Dies folgt aus der unterschiedlichen gesetzlichen Intention. Das fiskalische Interesse an Steuereinnahmen ist ein anderes als das der Sozialversicherungsträger an Beitragseinnahmen, und beide sind ein anderes als das auf den Arbeitnehmerschutz zielende Interesse des Arbeitsrechtes. Der steuerrechtliche Begriff des Arbeitnehmers deckt sich nicht immer zwingend mit den in anderen Rechtsgebieten verwandten Begriffen. Das BSG sieht sich nicht an die steuerrechtliche Beurteilung und die hierzu ergangene Rechtsprechung des BFH gebunden und auch nicht gezwungen, diese Frage dem gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes vorzulegen, da der Arbeitnehmerbegriff im steuerrechtlichen Sinn durchaus in den Randbereichen abweichend ausgelegt werden kann (vgl. bereits BSG v. 21.4.1993 – 11 RAr 67/92, NJW 1994, 341 = AP Nr. 67 zu § 611 BGB Abhängigkeit; BSG v. 11.11.2015 – B 12 KR 13/14 R).
Rz. 1059
Lösen im Sinne einer Vereinheitlichung der Rechtsgebiete kann nur der Gesetzgeber die Thematik. Diese Chance hat der Gesetzgeber – auch jüngst bei der Einfügung des neuen § 611a BGB – bisher versäumt. Das Ziel, nicht nur einfache und unkomplizierte Lösungen für die Praxis zu finden, sondern auch dem Gebot der Wahrung der Einheit der Rechtsordnung zu entsprechen, bleibt auf unbestimmte Zeit nicht erreicht; s. oben Rdn 762 ff.
Rz. 1060
Für die steuerrechtliche Beurteilung einer Tätigkeit als selbstständig oder nichtselbstständig kann der sozialrechtlichen und arbeitsrechtlichen Einordnung zwar indizielle Bedeutung zukommen, eine Bindung besteht jedoch nicht (vgl. BFH v. 9.7.2012 -VI B 38/12, juris; dieser Rspr. folgend FG Köln v. 27.11.2019 – 13 K 927/16, juris Rn 60/ 61; FG Rheinland-Pfalz v. 23.1.2014 – 6 K 2294/11, juris; BFH v. 14.4.2011, BFH/NV 2011, 1138; BFH v. 20.10.2010, NZA 2011, 502 = GmbHR 2011, 313; BFH v. 2.12.1998, BB 1999, 1477 = BStBl II 1999, 534). Der steuerliche Arbeitnehmerbegriff ist eigenständiger Natur (vgl. FG Köln v. 27.11.2019 – 13 K 927/16, juris; FG Rheinland-Pfalz v. 23.1.2014 – 6 K 2294/11 unter Bezug auf die Rspr. des BFH). Sehr deutlich formuliert der 6. Senat des BFH, dass es bei dem Grundsatz bleibe, dass der sozialversicherungsrechtliche und der arbeitsrechtliche Arbeitnehmerbegriff sich von dem einkommensteuerlichen Arbeitnehmerbegriff des § 19 EStG unterscheide und jedenfalls nicht deckungsgleich sein müsse (vgl. BFH v. 9.7.2012 – VI B 38/12, juris; FG Köln v. 27.11.2019 – 13 K 927/16, juris). So kann im Einzelfall steuerrechtlich eine unselbstständige Beschäftigung, arbeitsrechtlich jedoch kein Arbeitsverhältnis vorliegen und umgekehrt (vgl. BFH v. 24.10.2006, BFH/NV 2007, 446; BFH v. 2.12.1998, DB 1999, 1044 = BB 1999, 1477; BFH v. 13.2.1980, BStBl II 1980, 303 und BFH v. 14.12.1978, DB 1979, 145 = BStBl II 1979, 188).
Rz. 1061
Das BAG, der BGH, der BFH und das BSG stimmen darin überein, dass sich der jeweilige Vertragstypus aus dem wirklichen Geschäftsinhalt ergibt. Nicht der Wortlaut einer Bezeichnung als freier Mitarbeiter im Vertrag ist ausschlaggebend, sondern vielmehr die tatsächliche Durchführung entscheidet über die rechtliche Qualifizierung, wenn die Wirklichkeit nicht mit dem Vertragsinhalt übereinstimmt (vgl. BAG v. 25.8.2020 – 9 AZR 373/19, juris; BAG v. 21.5.2019 – 9 AZR 295/18, juris; BAG v. 27.6.2017 – 9 AZR 851/16; BAG v. 11.8.2015 – 9 AZR 98/14; BAG v. 15.2.2012 – 10 AZR 301/10; BAG v. 13.3.2008 – 2 AZR 1037/06; BAG v. 26.5.1999, DB 1999, 1704 = NZA 1999, 983; BAG v. 16.6.1998, BB 1998, 1590 = NZA 1998, 839; BAG v. 12.9.1996, DB 1997, 47 = BB 1996, 2690; BAG v. 13.11.1991, BAGE 69, 62 = NZA 1992, 1125; BGH v. 27.9.2011 – 1 StR 399/11; BGH v. 16.10.2002 – VIII ZB 27/02; BGH v. 27.1.2000 – III ZB 67/99; BGH v. 21.10.1998 – VIII ZB 54/97, BB 1999, 11 = NZA 1999, 53; BFH v. 24.7.1992, DB 1993, 208 = BStBl II 1993, 155; BSG v. 31.3.2017 – B 12 R 7/15 R; BSG v. 28.1.1999 – B 3 KR 2/98 R, BB 1999, 1662; BSG v. 13.7.1978, Di...