Rz. 45

Nach § 511 Abs. 4 ZPO lässt das Gericht des ersten Rechtszuges die Berufung zu, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Liegen diese Voraussetzungen vor, ist die Berufung stets zuzulassen.[90] Die Voraussetzungen decken sich mit den gesetzlich vorgesehenen Kriterien für die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) und der Rechtsbeschwerde (§ 574 Abs. 2 ZPO). Auf die hierzu einschlägige Rechtsprechung des BGH kann daher zurückgegriffen werden.

 

Rz. 46

Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann.[91] Klärungsbedürftig sind solche Rechtsfragen, deren Beantwortung zweifelhaft ist oder zu denen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden oder die noch nicht oder nicht hinreichend höchstrichterlich geklärt sind.[92] Klärungsbedarf kann sich also auch unter dem Blickwinkel der Förderung der Rechtsentwicklung ergeben, wenn die Instanzgerichte dem Bundesgerichtshof nicht folgen oder im Schrifttum ernst zu nehmende Bedenken gegen eine höchstrichterliche Rechtsprechung geäußert werden.[93]

 

Rz. 47

 

Beispiele

Es geht hierbei regelmäßig um die Auslegung bzw. Wirksamkeit

häufig anzutreffender Vertragsbestimmungen bzw. Allgemeiner Geschäftsbedingungen[94] oder
von Umlagemaßstäben für Nebenkostenabrechnungen.[95]
 

Rz. 48

Der Zulassungsgrund der Rechtsfortbildung deckt sich weitgehend mit dem der Grundsatzbedeutung und setzt ebenso wie dieser zunächst eine Vielzahl von künftigen vergleichbaren Fällen voraus.[96] Der Einzelfall muss Veranlassung geben, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder formellen Rechts aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen. Dies ist gegeben, wenn der Fall eine verallgemeinerungsfähige rechtliche Frage aufwirft, für deren rechtliche Beurteilung eine richtungweisende Orientierungshilfe ganz oder teilweise fehlt.[97]

 

Rz. 49

 

Hinweis

Ob die Entscheidung einer streitentscheidenden Frage der Fortbildung des Rechts dient, ist mitunter den Gesetzesbegründungen zu entnehmen. Dann kann die Zulassung der Berufung darauf gestützt werden, dass bereits der Gesetzgeber die Klärung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen den Gerichten zugewiesen habe.

 

Rz. 50

Die Berufungszulassung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung betrifft insbesondere Fälle der Divergenz, wenn also die angefochtene Entscheidung dieselbe Rechtsfrage anders beantwortet als die Entscheidung eines höherrangigen oder eines anderen gleichgeordneten Gerichts oder eines anderen Spruchkörpers desselben Gerichts.[98] Es soll vermieden werden, dass im Zuständigkeitsbereich eines Berufungsgerichts schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung entstehen oder fortbestehen, wobei es darauf ankommt, welche Bedeutung die angefochtene Entscheidung für die Rechtsprechung im Ganzen hat. Von solchen Unterschieden ist bei der Abweichung von der Entscheidung eines höherrangigen Gerichts in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage insbesondere dann auszugehen, wenn die Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung ist, weil sie in einer Mehrzahl von Fällen auftreten kann.[99] Für die Berufungszulassung – aufgrund der Zulassung durch den iudex a quo – seltener bedeutsam ist die Zulassung, wenn bei der Auslegung oder Anwendung des Rechts Fehler über die Einzelfallentscheidung hinaus die Interessen der Allgemeinheit nachhaltig berühren.[100]

 

Rz. 51

 

Beispiele

Typischerweise fallen unter diesen Zulassungsgrund Fälle:

in denen das erstinstanzliche Gericht von der Rechtsprechung des übergeordneten Landgerichts oder Oberlandesgerichts abweichen möchte[101] oder
bei denen innerhalb eines Amtsgerichts zu einer bestimmten Rechtsfrage unterschiedliche Meinungen bestehen.[102]
[90] BVerfG BeckRS 2017, 117816.
[91] Vgl. BGH NJW 2004, 2222, 2223.
[92] BVerfG BeckRS 2017, 117816.
[93] BT-Drucks 14/4722, 104.
[94] Gehrlein, § 14 Rn 27.
[95] Goebel, PA 2002, 33, 34.
[98] Vgl. BGH NJW 2002, 2473, 2474.
[99] BVerfG BeckRS 2017, 117816.
[100] Vgl. BGH NJW 2002, 3029, 3030.
[101] Goebel, PA 2002, 33, 34.
[102] Stackmann, NJW 2002, 781, 782.

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