Dr. Michael Thielemann, Dr. iur. Alexander Walter
aa) Anwendungsbereich
Rz. 76
Die Urteilsergänzungsfrist spielt eine Rolle, wenn im Tenor eines Urteils
▪ |
versehentlich über einen nach dem Tatbestand erhobenen Haupt- oder Nebenanspruch oder über den Kostenpunkt nicht (vollständig) entschieden worden ist (§ 321 ZPO), also eine Entscheidungslücke gegeben ist, |
zudem in gesetzlich angeordneten Fällen, wenn im Tenor eines Urteils
▪ |
ein Vorbehalt fehlt, den der Beklagte benötigt, um seine Rechte im Nachverfahren geltend machen zu können (§ 302 Abs. 2 ZPO und § 599 Abs. 2 ZPO), |
▪ |
über die vorläufige Vollstreckbarkeit oder die Abwendungsbefugnis nicht entschieden worden ist (§ 716 ZPO), |
▪ |
dem Schuldner bei Räumungstitel keine angemessene Räumungsfrist gewährt wurde (§ 721 Abs. 1 ZPO). |
Analog anwendbar ist § 321 ZPO darüber hinaus in vergleichbaren Konstellationen, wenn etwa im Tenor
▪ |
die Vorbehalte beschränkter Haftung nicht aufgenommen worden sind (§§ 305, 780, 786 ZPO). |
Das Gericht kann hingegen nicht über ein Zurückbehaltungsrecht, das es bei seiner Entscheidung übersehen hat, im Wege eines Ergänzungsurteils gem. § 321 ZPO entscheiden.
Rz. 77
In diesen Fällen ist eine Fehlerkorrektur durch die Berufung grundsätzlich nicht möglich, weil die Beschwer nicht in der getroffenen, sondern in der versehentlich unterlassenen Entscheidung liegt. Allerdings gibt es Ausnahmen, in denen es zu Überschneidungen von Urteilsergänzung und Rechtsmitteleinlegung kommt:
▪ |
Der "übergangene Anspruch" kann das Urteil inhaltlich unrichtig machen. Das ist der Fall, wenn das erstinstanzliche Gericht ein Vorbehaltsurteil erlässt, ohne dem Beklagten die Geltendmachung seiner Rechte im Nachverfahren vorzubehalten (§§ 302 Abs. 2 und 599 Abs. 2 ZPO). Dann ist neben § 321 ZPO auch die Berufung zulässig. |
▪ |
Ein Berufungsangriff gegen den Kostenpunkt ist möglich, wenn gegen das Urteil auch noch aus anderen Gründen erfolgreich Berufung eingelegt worden ist. Das Berufungsgericht fällt dann von Amts wegen eine Entscheidung über die Kosten des gesamten Rechtsstreits. |
▪ |
Übergeht ein Gericht einen von mehreren Klageanträgen, ist neben dem Ergänzungsverfahren nach § 321 Abs. 1 ZPO auch der Rechtsmittelzug eröffnet, wenn sich dieses Versäumnis nicht nur in einer bloßen Unvollständigkeit der getroffenen Entscheidung erschöpft, sondern zu einem sachlich unrichtigen Urteil führt. |
▪ |
Der "übergangene" Anspruch kann bei einer aus anderen Gründen zulässigen Berufung als neuer Anspruch durch Klageerweiterung eingebracht werden. |
▪ |
Hat das Berufungsgericht versäumt, über die vorläufige Vollstreckbarkeit zu entscheiden und wurde auch die Antragsfrist des § 321 Abs. 2 ZPO nicht eingehalten, kann der Antrag in der Berufungsinstanz noch gem. § 718 ZPO gestellt werden. |
bb) Dauer der Urteilsergänzungsfrist
Rz. 78
Die nicht verlängerbare (§ 224 Abs. 2 ZPO) Urteilsergänzungsfrist beträgt gem. § 321 Abs. 2 ZPO zwei Wochen. Sie ist keine Notfrist und keine andere in § 233 ZPO genannte Frist. Deswegen kommt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht.
Rz. 79
Die Urteilsergänzungsfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils. Zur Fristberechnung gelten § 222 Abs. 1 ZPO i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2, 3 BGB und § 222 Abs. 2 ZPO.
Rz. 80
Hinweis
Bei Fristablauf kommt eine Korrektur der unvollständigen Entscheidung dann noch in Betracht, wenn eine offenbare Unrichtigkeit gegeben ist und nicht nur ein Versehen vorliegt. Wurde versäumt über die Kosten des Nebenintervenienten bzw. des Streithelfers mit zu entscheiden und ist die Zwei-Wochen-Frist abgelaufen, kann der Nebenintervenient bzw. Streithelfer eine Korrektur im Wege der nicht fristgebundenen Berichtigung nach § 319 ZPO erreichen, wenn sich in den Urteilsgründen hinreichend sicher feststellen lässt, wie das Gericht über die Kosten des Nebenintervenienten bzw. Streithelfers hätte entscheiden wollen.
cc) Urteilsergänzung und Berufungsverfahren
Rz. 81
Über die Urteilsergänzung entscheidet das erstinstanzliche Gericht durch Ergänzungsurteil. Dieses ist selbstständig mit der Berufung gem. §§ 511 ff. ZPO anfechtbar. Nach § 518 Abs. 1 ZPO beginnt der Lauf der Berufungsfrist auch für das zuerst ergangene Urteil mit der Zustellung des Ergänzungsurteils von neuem, vorausgesetzt das Ergänzungsurteil wurde innerhalb der Berufungsfrist des ersten Urteils zugestellt.
dd) Anwaltsgebühren
Rz. 82
Der Antrag auf Urteilsergänzung gehört gem. § 19 Nr. 6 RVG zum Rechtszug und kann deshalb grundsätzlich vom erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten nicht isoliert abgere...