Rz. 300

Bei vollständiger Auswertung des Sachvortrags und der Beweisangebote der Parteien kann der Berufungskläger auch die fehlerhafte Beweiswürdigung rügen. Die Anforderungen an die Darlegung der Rüge können nicht formalisiert werden. Sie variieren nach der Angriffsrichtung der erhobenen Beanstandung.

 

Rz. 301

 

Beispiel

Eine nähere Darlegung ist nicht erforderlich, wenn der gerichtliche Sachverständige in erster Instanz beauftragt war, ergänzend zu einem Privatgutachten Stellung zu nehmen, in den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils jedoch nicht ausgeführt ist, weshalb das Ergänzungsgutachten und eine hierauf bezogene mündliche Erörterung für das Gericht überzeugend gewesen sind.[454]

 

Rz. 302

Angriffspunkte sind etwa "klassische" Würdigungsmängel, das Vernachlässigen von Indizien, aber auch das Verkennen des anzulegenden Beweismaßes.

 

Rz. 303

 

Formulierungsbeispiel

Das angefochtene Urteil ist im Hinblick auf § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 ZPO fehlerhaft, weil das Landgericht die Aussage der Zeugin und Ehefrau des Klägers als unglaubwürdig erachtete, mit der Begründung, derartigen Zeugenaussagen komme erfahrungsgemäß kein hoher Beweiswert zu. Eine solche pauschalisierte Beweiswürdigung ist verfahrensfehlerhaft, weil es bei jeder Beweiswürdigung stets auf die besonderen Umstände des Einzelfalles ankommt. Das Landgericht hatte keinen Anlass, der Aussage der Zeugin und Ehefrau des Klägers im vorliegenden Fall nicht zu glauben. Deshalb wird beantragt,

 
  die Beweisaufnahme zu dem Beweisthema … durch Vernehmung der Zeugin … vor dem Senat zu wiederholen.

Wenn sich der Senat ein eigenes Bild über die Glaubwürdigkeit der Zeugin macht, wird die Entscheidung des Landgerichts abzuändern sein, weil die Zeugin den schlüssigen Vortrag des Klägers vollumfänglich bestätigt hat und der Beklagte keinen Gegenbeweis antrat.

 

Rz. 304

 

Formulierungsbeispiel

Das angefochtene Urteil ist im Hinblick auf § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 ZPO fehlerhaft, weil das Landgericht die entscheidungserhebliche Frage, ob die noch vorhandenen Beschwerden des Klägers auf dem Unfall oder dem unfallbedingten HWS-Schleudertrauma beruhten, zu Unrecht verneinte. Dabei hat das Landgericht verkannt, dass diese Frage bei verbleibenden Restzweifeln unter Anwendung von § 287 Abs. 1 ZPO zu beantworten ist, weil es um den Umfang eines eingetretenen Schadens und damit um die haftungsausfüllende Kausalität geht.[455] Das erstinstanzlich eingeholte Sachverständigengutachten befasst sich aber nach Maßgabe des Beweisbeschlusses schon nicht mit der Frage, ob eine nach § 287 ZPO ausreichende überwiegende Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs besteht, sondern ausschließlich mit der Frage der naturwissenschaftlichen Nachweisbarkeit des Ursachenzusammenhangs. Die hierdurch bedingte Unvollständigkeit des Gutachtens kann nicht zulasten des Klägers gehen, weil sie auf einer fehlerhaften Anwendung des Beweismaßes durch das Landgericht beruhte.[456] Da die Unvollständigkeit der Begutachtung somit aus dem angefochtenen Urteil selbst folgt, hat das Berufungsgericht von Amts wegen auf eine Vervollständigung des Gutachtens hinzuwirken.[457] Nur vorsorglich wird auch ausdrücklich Antrag auf Anhörung des Sachverständigen gem. §§ 402, 379 ZPO gestellt.

[455] BGH NJW 2003, 1116; BGH NJW 2004, 777.
[456] BGH NJW 2004, 2828, 2829.
[457] BGH NJW 2004, 2828, 2830.

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