Rz. 348

Im Übrigen können Angriffs- und Verteidigungsmittel, die nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist (§ 520 Abs. 2 ZPO) bzw. der Frist zur schriftsätzlichen Stellungnahme auf die Berufungserwiderung (§ 521 Abs. 2 S. 1 ZPO) erstmals vorgebracht werden, nach §§ 530, 296 Abs. 1 und 4 ZPO verspätet sein. Der neue Vortrag ist nur zulässig, wenn er nach der freien Überzeugung des Gerichts den Rechtsstreit nicht verzögert oder der Berufungskläger die Verspätung genügend entschuldigt.

 

Rz. 349

 

Hinweis

Die Begrenzung der Berücksichtigung von Vorbringen in der Berufungsinstanz ist differenziert und keineswegs leicht überschaubar ausgestaltet. Angriffs- und Verteidigungsmittel, die im ersten Rechtszuge zu Recht zurückgewiesen worden sind, bleiben ausgeschlossen (§ 531 Abs. 1 ZPO). Neues Vorbringen ist nur bei einem Zulassungsgrund nach § 531 Abs. 2 ZPO zu berücksichtigen. In § 530 ZPO wird geregelt, wann Vorbringen nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist, der Berufungserwiderungsfrist oder der Frist zur Stellungnahme auf die Berufungserwiderung präkludiert sind. Daneben greifen über § 525 ZPO die allgemeinen Vorschriften des § 296 Abs. 1 und 4 ZPO bzw. der §§ 296 Abs. 2, 282 ZPO. Für verzichtbare Zulässigkeitsrügen gilt § 532 ZPO. Die Zulässigkeit von Klageänderung, Aufrechnung und Widerklage bestimmt sich nach § 533 ZPO.

 

Rz. 350

Ob neuer Vortrag zu einer Verzögerung des Rechtsstreits führt, wird teilweise nach dem absoluten Verzögerungsbegriff[537] und mitunter nach dem relativen Verzögerungsbegriff[538] beurteilt. Nach dem aus dem Gesetzeswortlaut hergeleiteten[539] absoluten Verzögerungsbegriff nützt es dem Berufungskläger – anders als bei Heranziehung des relativen Verzögerungsbegriffs – nicht, wenn er darlegen kann, dass der Rechtsstreit durch den verspätet vorgebrachten neuen Vortrag nicht länger dauert, als er gedauert hätte, wenn der Vortrag rechtzeitig geführt worden wäre. Maßgeblich für die Verzögerung ist danach allein, ob durch die Zulassung des verspäteten Vorbringens bereits eine Verzögerung eintritt.

 

Rz. 351

Auch bei Zugrundelegung des absoluten Verzögerungsbegriffs muss das Berufungsgericht in den Grenzen des Zumutbaren versuchen, eine Verzögerung abzuwenden.[540] Dies nähert die Verzögerungsbegriffe zumindest im Ergebnis einander an. So wird die Verzögerung verneint, wenn das Berufungsgericht den Rechtsstreit durch terminsvorbereitende Maßnahmen gem. § 273 ZPO ohne weiteren Verzug zur Spruchreife führen kann. Dies ist der Fall, wenn zwischen dem neuen Vortrag und dem Verhandlungstermin genügend Zeit verbleibt, um

ein Sachverständigengutachten einzuholen[541] oder
eine Zeugenvernehmung vorzubereiten.[542]

Sind terminvorbereitende Maßnahmen aber erst einmal ergriffen worden, um eine Verzögerung zu vermeiden, rechtfertigen

ein nicht rechtzeitig zum Verhandlungstermin fertig gestelltes Sachverständigengutachten oder
ein nicht zum Verhandlungstermin erschienener geladener Zeuge

die Zurückweisung des verspäteten Vorbringens nicht mehr.[543]

Es muss dem Berufungsgericht aber zumindest noch möglich sein, die Verzögerung durch terminsvorbereitende Maßnahmen auszugleichen.[544] Zu Eilmaßnahmen ist es nicht verpflichtet. Allerdings ist die Partei dann grundsätzlich zu informieren, damit ihr selbst die Möglichkeit des Ausgleichs – etwa durch Stellen eines Zeugen – bleibt.[545]

 

Rz. 352

 

Beispiele

Ob verspätet benannte Zeugen im anberaumten Termin gehört werden, hängt von der Anzahl der zusätzlich benannten Zeugen und dem Umfang des Beweisthemas ab. Ist das Beweisthema eng umgrenzt, ist es ggf. geboten, auch mehrere verspätet benannte Zeugen zu hören.[546] Hingegen kann bei einem umfangreichen Beweisthema zur Klärung eines vielschichtigen Streitstoffs die Vernehmung weiterer Zeugen zur Überschreitung der Zumutbarkeitsgrenze führen.[547] Ebenfalls unzumutbar ist die Durchführung einer sog. zweistufigen Beweisaufnahme, bei der die weitere Beweisaufnahme nach ihrem Thema und Umfang vom Ergebnis der ersten Beweisaufnahme abhängig ist.[548]

 

Rz. 353

Führt das verspätete Vorbringen zu einer Verzögerung, muss der Berufungskläger nachweisen, dass ihn an der Verspätung kein Verschulden trifft. Dies setzt voraus, dass er den entlastenden Sachverhalt darlegt und auf Verlangen des Gerichts gem. § 296 Abs. 4 ZPO glaubhaft macht. Für ein Verschulden genügt Fahrlässigkeit. Sind die vorzutragenden neuen Umstände erst nach dem Ablauf der in § 530 ZPO bezeichneten Frist entstanden (echtes Novum), liegt bei unverzüglichem Vortrag kein Verschulden vor. Bei einem unechten Novum ist zu differenzieren: Restitutionsgründe im Sinne des § 580 ZPO, die der Berufungskläger in einem Restitutionsverfahren gem. § 582 ZPO geltend machen könnte, sind immer zu berücksichtigen.[549] In allen anderen Fällen ist zu untersuchen, ob dem Berufungskläger das neue Angriffs- und Verteidigungsmittel unverschuldet unbekannt geblieben ist oder der Berufungskläger die Beachtlichkeit des Umstandes trotz tatsächlicher Kenntnis schuldlos verkannt hat.

[537] B...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge