Rz. 79
Dem Pflichtteilsergänzungsanspruch unterliegt immer nur der unentgeltliche Teil einer Zuwendung. Bei der Bewertung des Ergänzungsanspruchs ist demnach im Rahmen einer gemischten Schenkung immer die Gegenleistung abzuziehen. In der Praxis ergibt sich oftmals die Schwierigkeit, dass nicht eindeutig geklärt ist, ob eine gemischte Schenkung vorliegt; weiter stellt sich das Problem, dass die Gegenleistung bewertet werden muss, um den unentgeltlichen Teil ermitteln zu können.
Rz. 80
Um den Pflichtteilsberechtigten nicht vor unlösbare Beweisprobleme zu stellen, wird seine Stellung durch eine Beweislastregel verbessert. Stehen nämlich Leistung und Gegenleistung in einem auffälligen und groben Missverhältnis, spricht nach Auffassung des BGH eine tatsächliche Vermutung dafür, dass sich die Parteien über die Unentgeltlichkeit der Wertdifferenz einig waren und dass dann eine gemischte Schenkung vorliegt.
Rz. 81
Nach der Rechtsprechung soll aber eine Anwendung der Beweislastregeln bereits dann möglich sein, wenn das Mehr der Leistung "über ein geringes Maß deutlich hinausgeht". In der Rechtsprechung finden sich allerdings keine Prozentangaben.
Rz. 82
Die Beweislast für das Vorliegen des Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung trägt der Pflichtteilsberechtigte. Greift die Beweiserleichterung ein, dann muss sich der Übernehmer durch den Gegenbeweis entlasten, dass die getätigte Zuwendung seitens des Erblassers nicht unentgeltlich war.
Rz. 83
Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang ist die Bewertung der Gegenleistung. Als typische Gegenleistung kann hier beispielsweise die Schuldübernahme oder die Einräumung eines Nießbrauchsrechts oder eines Wohnrechts vereinbart werden. Die Gegenleistung kann in einem solchen Fall den für die Berechnung des Ergänzungsanspruchs maßgeblichen Wert mindern. Für die Bewertung selbst geht § 2325 Abs. 2 BGB von einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise aus, d.h. es ist der Wert des übergebenen Gegenstands unter Abzug der Gegenleistung zu ermitteln.
Rz. 84
Behält sich der Erblasser einen lebenslänglichen Nießbrauch oder ein Wohnungsrecht an dem übergebenen Grundstück vor, so ist zu unterscheiden: Erreichen die Gegenleistungen unter Berücksichtigung des kapitalisierten Nutzungsrechts den Wert der Zuwendung, kann es bereits an dem Vorliegen einer Schenkung fehlen.
Bleibt der Wert der Gegenleistungen hinter dem Wert des Übergabegegenstandes zurück, gilt nach der Rechtsprechung des BGH das sogenannte Niederstwertprinzip. Ist nach der Grundregel des § 2325 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 BGB der Wert der Immobilie zum Zeitpunkt des Erbfalls maßgeblich, bleibt das Nutzungsrecht unberücksichtigt. Kommt es dagegen gemäß § 2325 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 BGB – weil niedriger – auf den Wert zum Zeitpunkt der Schenkung an, ist der Nießbrauch bzw. das Wohnungsrecht in Höhe der kapitalisierten Nutzung in Abzug zu bringen. Nur der Restbetrag unterliegt in diesem Fall dem Ergänzungsanspruch. Nach Ansicht des BGH ist dabei für die Bewertung des Nutzungsrechts auch zu berücksichtigen, inwieweit Reparatur- und Instandsetzungskosten eines Hauses über die reinen Reparaturkosten hinausgehen.
Rz. 85
In der Literatur und auch von einigen Obergerichten ist die Rechtsprechung des BGH zum Abzug von Nießbrauch und Wohnrecht bei der Ermittlung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs stark kritisiert und abgelehnt worden. Trotz dieser Kritik kann die Rechtsprechung des BGH zur Berücksichtigung des Nießbrauchs oder Wohnrechts als gefestigt angesehen werden, zumal der BGH seine Rechtsprechung in einer Entscheidung vom 8.3.2006 ausdrücklich bestätigt hat.
Hinweis
Zu beachten ist, dass die Zehnjahresfrist des § 2325 Abs. 3 S. 1, 2 BGB nicht zu laufen beginnt, wenn sich der Übergeber bei der Vermögensübertragung ein Nießbrauchsrecht vorbehält. In diesen Fällen verliert der Übergeber lediglich formal sein Eigentum, verzichtet aber nicht auf den "Genuss" des übertragenen Vermögens. Inwieweit diese Grundsätze auch für ein (sich gegebenenfalls nur auf einzelne Gebäudeteile erstreckendes) Wohnungsrecht gelten, richtet sich nach der Rechtsprechung des BGH nach den Umständen des Einzelfalls, anhand derer beurteilt werden muss, ob der Erblasser den verschenkten Gegenstand auch nach Vertragsschluss noch im Wesentlichen weiterhin nutzen konnte. Für den Regelfall wird man mittlerweile davon ausgehen können, dass jedenfalls der Vorbehalt eines räumlich beschränkten Wohnungsrechts den Lauf der Frist nicht hemmt.
Rz. 86
Ein weiteres Bewertungsproblem in diesem Zusammenhang ist die Frage, ob bei Abzug des Nießbrauchs von einem abstrakten kapitalisierten Wert auszugehen oder ob, was bei der Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs immer möglich wäre, die tatsächliche Lebensdauer des Erblassers zu berücksichtigen ist. In konsequenter Folge zur Rechtsprechung des BGH ist auf den abstrakten kapitalisierten Nießbrauchswert abzustellen, da es um die Ermittlung des Wertes zum Zeitpunk...