I. Allgemeines
Rz. 60
Der Pflichtteilsergänzungsanspruch, auch außerordentlicher Pflichtteil genannt, ist ein vom ordentlichen Pflichtteil unabhängiger Anspruch eines Pflichtteilsberechtigten. Während sich der ordentliche Pflichtteilsanspruch aus dem zum Zeitpunkt des Erbfalls tatsächlich vorhandenen Nachlass berechnet, wird der Pflichtteilsergänzungsanspruch aus dem fiktiven Nachlass (lebzeitigen Schenkungen) ermittelt.
Rz. 61
Der Pflichtteilsergänzungsanspruch soll einen Ausgleich für die zu Lebzeiten des Erblassers getätigten Schenkungen schaffen und so verhindern, dass der Erblasser durch lebzeitige Zuwendungen den Nachlass vermindert und die Rechte der Pflichtteilsberechtigten umgeht. Haben die Ehegatten ein gemeinschaftliches Testament in Form des Berliner Testaments (§ 2269 BGB) errichtet, so ist als Erblasser i.S.v. § 2325 BGB bei Tod des Letztversterbenden immer nur der überlebende Ehegatte anzusehen. Anders als bei den Ausgleichungsvorschriften nach §§ 2050 ff. BGB gilt hier nicht der sogenannte erweiterte Erblasserbegriff. Die Geschenke des vorverstorbenen Ehegatten finden demnach beim Tod des Überlebenden im Rahmen des Pflichtteilsergänzungsanspruchs keine Berücksichtigung.
Rz. 62
Der Pflichtteilsergänzungsanspruch ist ein selbstständiger Pflichtteilsanspruch, der grundsätzlich auf eine Geldzahlung gerichtet ist. Er steht dem Pflichtteilsberechtigten unabhängig vom ordentlichen Pflichtteil zu, was sich bereits aus der Klarstellung des § 2326 BGB ergibt. Er steht dem Berechtigten auch dann zu, wenn dieser nicht durch eine Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge ausgeschlossen ist.
Rz. 63
Rechtlich wird der Pflichtteilsergänzungsanspruch entsprechend dem ordentlichen Pflichtteilsanspruch behandelt, und zwar hinsichtlich seines Entstehens und seiner Übertragbarkeit. Gleiches gilt auch für die Auskunftspflicht und den Wertermittlungsanspruch, auch wenn dem Miterben gegenüber den anderen Miterben grundsätzlich kein Auskunftsanspruch zusteht.
II. Der Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 BGB
1. Allgemeines
Rz. 64
Gemäß § 2325 Abs. 1 BGB kann der Pflichtteilsberechtigte einen Pflichtteilsergänzungsanspruch gegen den oder die Erben geltend machen, wenn der Erblasser einem Dritten eine Schenkung gemacht hat. Berücksichtigt werden in der Regel gemäß § 2325 Abs. 3 S. 2 BGB nur Schenkungen, die innerhalb der letzten zehn Jahre vor dem Erbfall getätigt wurden. Für Erbfälle ab dem 1.1.2010 sieht das Gesetz in § 2325 Abs. 3 S. 1 BGB statt dem früher geltenden Alles-oder-Nichts-Prinzip eine Abschmelzung vor: Für jedes Jahr, das zwischen Schenkung und Erbfall vergeht, wird die Schenkung 10 % weniger berücksichtigt. Erfolgte die Schenkung an den Ehegatten, so beginnt die Zehnjahresfrist nicht vor Auflösung der Ehe (§ 2325 Abs. 3 S. 3 BGB).
Rz. 65
Nach Ansicht des BGH unterliegen grundsätzlich auch die ehebezogenen Zuwendungen dem Pflichtteilsergänzungsanspruch. Die Höhe des Pflichtteilsergänzungsanspruchs ist – vorbehaltlich einer zu berücksichtigenden Abschmelzung gemäß § 2325 Abs. 3 S. 1 BGB – der Betrag, um den sich der Pflichtteil erhöht hätte, wenn der verschenkte Gegenstand wertmäßig dem Nachlass hinzugerechnet worden wäre.
2. Der Schenkungsbegriff
Rz. 66
Der Schenkungsbegriff des § 2325 Abs. 1 BGB deckt sich mit dem des § 516 Abs. 1 BGB. Danach sind zwei Voraussetzungen für das Vorliegen einer Schenkung maßgebend, zum einen die objektive Bereicherung des Dritten und zum anderen das Einigsein zwischen Erblasser und Zuwendungsempfänger über die objektive Unentgeltlichkeit der Zuwendung. Entscheidend ist grundsätzlich nicht die Höhe des Vermögensabflusses, sondern das Maß der beim Zuwendungsempfänger bewirkten Bereicherung. Diese ist objektiv festzustellen. Die Bemessungsgrundlage für den Pflichtteilsergänzungsanspruch ist somit der Wert der unentgeltlichen Zuwendung. Vgl. zur Höhe des Pflichtteilsergänzungsanspruchs bei Schenkung als Abfindung für einen Erb- und Pflichtteilsverzicht OLG Hamm ZEV 2000, 277.
Die früher umstrittene Frage der pflichtteilsrechtlichen Behandlung von Zuwendungen an Stiftungen wurde vom BGH mit Urt. v. 10.12.2003 dahingehend beantwortet, dass auch endgültige unentgeltliche Zuwendungen an Stiftungen in Form von Zustiftungen oder freien oder gebundenen Spenden der Pflichtteilsergänzung unterfallen. Auf die Ausstattung einer Stiftung ist § 2325 BGB entsprechend anwendbar, denn Schenkung und Ausstattung einer Stiftung zu Lebzeiten sind bis auf den Akt der Begründung dieser Verpflichtungen im Wesentlichen identisch.
Rz. 67
Vereinbaren Schenker und Erwerber, nachdem der Schenkungsgegenstand übertragen wurde, nachträglich ein volles Entgelt für den Übergabegegenstand und die daraus vom Erwerber bereits g...