1. Allgemeines
Rz. 141
Der Pflichtteilsergänzungsanspruch, auch außerordentlicher Pflichtteil genannt, ist ein vom ordentlichen Pflichtteil unabhängiger Anspruch eines Pflichtteilsberechtigten. Der Pflichtteilsergänzungsanspruch soll einen Ausgleich für die zu Lebzeiten des Erblassers getätigten Schenkungen schaffen und so verhindern, dass der Erblasser durch lebzeitige Zuwendungen den Nachlass vermindert und die Rechte der Pflichtteilsberechtigten umgeht. Haben die Ehegatten ein gemeinschaftliches Testament (§ 2269 BGB) errichtet, so ist die Erbfolge der Elternteile deutlich auseinanderzuhalten. Jeder der beiden eintretenden Erbfälle löst für den Enterbten einen Pflichtteilsergänzungsanspruch aus. Als Erblasser i.S.v. § 2325 BGB ist immer nur der jeweils verstorbene Ehegatte anzusehen. Anders als bei den Ausgleichungsvorschriften nach §§ 2050 ff. BGB gilt hier nicht der sog. erweiterte Erblasserbegriff. Die Geschenke des vorverstorbenen Ehegatten finden demnach beim Tod des Überlebenden keine Berücksichtigung.
Rz. 142
Der Pflichtteilsergänzungsanspruch ist ein selbstständiger Pflichtteilsanspruch, der grundsätzlich auf eine Geldzahlung gerichtet ist (anders § 2329 BGB). Er steht dem Pflichtteilsberechtigten unabhängig vom ordentlichen Pflichtteil zu, was sich bereits aus der Klarstellung des § 2326 BGB ergibt. Er steht dem Berechtigten auch dann zu, wenn dieser nicht durch eine Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge ausgeschlossen ist (§ 2326 S. 1 BGB) oder die Erbschaft ausgeschlagen hat. Rechtlich wird der Pflichtteilsergänzungsanspruch entsprechend dem ordentlichen Pflichtteilsanspruch behandelt, und zwar hinsichtlich seines Entstehens und seiner Übertragbarkeit. Gleiches gilt auch für die Auskunftspflicht und den Wertermittlungsanspruch gegenüber dem Erben.
Rz. 143
Gemäß § 2325 Abs. 1 BGB kann der Pflichtteilsberechtigte einen Pflichtteilsergänzungsanspruch gegen den oder die Erben geltend machen, wenn der Erblasser einem Dritten eine Schenkung zugewendet hat. Berücksichtigt werden grundsätzlich gem. § 2325 Abs. 3 BGB nur Schenkungen, die innerhalb der letzten zehn Jahre vor dem Erbfall getätigt wurden. Hiervon kann allerdings Ausnahme sein eine Grundstücksschenkung, die unter Vorbehaltsnießbrauch steht. Auch wenn sich der Erblasser bei der Schenkung eines Grundstücks ein Wohnrecht an diesem oder Teilen daran vorbehält, kann in Ausnahmefällen der Beginn des Fristablaufs gem. § 2325 Abs. 3 BGB gehindert sein. Dies kann der Fall sein, wenn der Schenker darauf verzichtet, die Immobilie im Wesentlichen weiterzunutzen, also nicht mehr "Herr im Haus" ist. Erfolgte die Schenkung unter Ehegatten, so beginnt die Zehnjahresfrist nicht vor Auflösung der Ehe. Nach Ansicht des BGH unterliegen auch die ehebezogenen Zuwendungen dem Pflichtteilsergänzungsanspruch.
Die Höhe des Pflichtteilsergänzungsanspruchs ist der Betrag, um den sich der Pflichtteil erhöht hätte, wenn der verschenkte Gegenstand wertmäßig dem Nachlass hinzugerechnet worden wäre (fiktiver Nachlass oder auch sog. Ergänzungsnachlass).
2. Kreis der pflichtteilsergänzungsberechtigten Personen (Gläubiger)
Rz. 144
Gläubiger des Pflichtteilsergänzungsanspruchs ist der Pflichtteilsberechtigte. Voraussetzung ist aber nicht unbedingt, dass der Berechtigte im konkreten Fall auch pflichtteilsberechtigt ist. Es genügt, wenn er dem Kreis der für diesen Erbfall pflichtteilsberechtigten Personen angehört. Aufgrund der Selbstständigkeit beider Ansprüche kann der Pflichtteilsberechtigte die Erbschaft annehmen und trotzdem seinen Ergänzungspflichtteil geltend machen.
Rz. 145
Die Theorie der Doppelberechtigung, wonach nur derjenige Pflichtteilsberechtigte auch ergänzungsberechtigt ist, der zum Zeitpunkt der Schenkung bereits zu dem pflichtteilsberechtigten Personenkreis gehörte, hat der BGH zwischenzeitlich aufgegeben – jedenfalls insoweit, als es um die Pflichtteilsergänzung bei Schenkung noch nicht geborener Abkömmlinge geht. Offen bleibt, ob auch bei nachrückenden Ehegatten eine Doppelberechtigung nicht mehr erforderlich ist.
3. Schenkungsbegriff des § 2325 BGB
a) Allgemeines
Rz. 146
Der Schenkungsbegriff des § 2325 Abs. 1 BGB deckt sich mit dem des § 516 Abs. 1 BGB. Danach sind zwei Voraussetzungen für das Vorliegen einer Schenkung maßgebend: zum einen die objektive Bereicherung des Dritten und zum andern das Einigsein zwischen Erblasser und Zuwendungsempfänger über die objektive Unentgeltlichkeit der Zuwendung.
Rz. 147
Entscheidend ist grundsätzlich nicht die Höhe des Vermögensabflusses, sondern das Maß der beim Zuwendungsempfänger bewirkten Bereicherung. Diese ist objektiv festzustellen. Die Bemessungsgrundlage für den Pflicht...