Dr. iur. Martin Nebeling, Manfred Ehlers
Rz. 785
Nach § 310 Abs. 4 S. 2 Hs. 1 BGB sind bei der Anwendung des AGB-Rechts auf Arbeitsverträge die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten angemessen zu berücksichtigen. Was unter den im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten zu verstehen ist, sagt der Gesetzgeber nicht. Allenfalls lässt sich der Gesetzesbegründung entnehmen, dass vor allem die besonderen Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit im Arbeitsrecht nicht zwingend uneingeschränkt zur Anwendung kommen sollen, sondern hier die besonderen Bedürfnisse eines Arbeitsverhältnisses Berücksichtigung finden müssten (BT-Drucks 14/6857, 54). Der Rechtsausschuss sah in dieser Formulierung die Erwartung verwirklicht, dass den Besonderheiten spezifischer Bereiche des Arbeitsrechts, wie z.B. des kirchlichen Arbeitsrechtes, angemessen Rechnung zu tragen sei (BT-Drucks 14/7052, 189 zu § 310 Abs. 4). Im Schrifttum ist die Auslegung dieses Gesetzespassus bis heute umstritten (Birnbaum, NZA-RR 2003, 944; Däubler u.a., AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, § 310 BGB Rn 59 ff.; Däubler, in: Oetker/Preis/Rieble, 50 Jahre BAG; Hönn, ZfA 2003, 325; Preis in Sonderbeil. zu NZA, 2003, 19).
a) Anwendungsbereich des § 310 Abs. 4 S. 2 BGB
Rz. 786
Die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten sind bei sämtlichen Formulararbeitsverträgen zu berücksichtigen. Die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten können Abweichungen von sämtlichen Vorschriften der §§ 305 ff. BGB begründen. Dies ist seit der Entscheidung des BAG v. 4.3.2004 –8 AZR 196/03 (BB 2004, 1740) so auch anzunehmen. Zugleich ist damit geklärt, dass die Berücksichtigung der im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten nicht auf spezifische Bereiche des Arbeitsrechtes, wie etwa den kirchlichen Bereich, beschränkt werden können. Darüber hinaus betreffen die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten auch die besonderen Klauselverbote des § 309 BGB. Dies hat in der Rspr. immer wieder zur Zurückdrängung der Klauselverbote der §§ 308, 309 BGB geführt. Die Überprüfung einer AGB im Arbeitsvertrag wurde dann anhand des flexibleren Maßstabes des § 307 BGB vorgenommen. Andererseits zählt das BAG die §§ 105 ff. GewO zu den im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten, was zu einer Verzahnung des § 307 BGB mit den §§ 105 ff. GewO führen kann (BAG v. 11.4.2006 – 9 AZR 557/05, NZA 2006, 1149).
Rz. 787
Auf der Grundlage der Rspr. des BAG können die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten auch tatsächlicher Natur sein (BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, NJW 2005, 3305, 3306). Selbst allgemein praktizierte Vertragsgestaltungen können unter die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten fallen (BAG v. 1.3.2006 – 5 AZR 363/05, NZA 2006, 746: "Anrechnungsvorbehalte sind in arbeitsvertraglichen Vergütungsabreden seit Jahrzehnten gang und gäbe"). Sie stellen eine im Arbeitsrecht geltende Besonderheit dar. Dies ist nach § 310 Abs. 4 S. 2 BGB angemessen zu berücksichtigen. Das BAG subsumiert ausdrücklich auch die "tatsächlichen Besonderheiten des Arbeitslebens" unter § 310 Abs. 4 S. 2 BGB. Diese sollen in der seit Langem im Arbeitsleben anerkanntermaßen besonders gebotenen raschen Klärung von Ansprüchen und der Bereinigung offener Streitpunkte liegen (BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, NJW 2005, 3305, 3306 zu den zweistufigen Ausschlussfristen im Verhältnis zu § 309 Nr. 13 BGB). Tatsächliche Besonderheiten sind ebenfalls für das Gericht von Bedeutung, wenn es i.R.d. Bestimmung der angemessenen Länge einer arbeitsvertraglichen Ausschlussfrist auf eine Reihe kurzer gesetzlicher und tarifvertraglichen Fristen Bezug nimmt (BAG v. 28.9.2005 – 5 AZR 52/05, NJW 2006, 795, 797). Bedeutungsvoll ist damit die weite Verbreitung, d.h. die Üblichkeit entsprechender Fristbestimmungen und damit tatsächliche Umstände.
Rz. 788
Es geht dem BAG auch um die Beachtung der "dem Arbeitsverhältnis innewohnenden Besonderheiten" (BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, NJW 2005, 3305, 3306). Auf der Grundlage von pragmatischen Erwägungen bei der Anwendung der Klauselverbote mit und ohne Wertungsmöglichkeit zusammen mit der Erkenntnis, dass oftmals tatsächliche und rechtliche Besonderheiten nicht scharf voneinander zu trennen sind, ist die Auffassung des BAG vertretbar.
Rz. 789
Richterrecht ist im Arbeitsrecht zumindest Rechterkenntnisquelle. Die prinzipielle Berücksichtigung als arbeitsrechtliche Besonderheit ist deswegen anerkannt (LAG Berlin v. 30.3.2004, NZA-RR 2005, 20, 22; LAG Schleswig-Holstein v. 24.9.2003, NZA-RR 2004, 74, 76; Hönn, ZfA 2003, 325, 334; Preis, Sonderbeil. zu NZA 2003, 19, 26; Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rn 110). Es muss allerdings tatsächlich Richterrecht als Rechtserkenntnisquelle vorliegen. Dazu sind die klassischen Fallgestaltungen des Arbeitsrechtes, die Arbeitnehmerhaftung, die Betriebsrisikolehre, die Wirtschaftsrisikolehre sowie die Rückzahlung von Ausbildungskosten zu zählen. Allerdings ist festzuhalten, dass durch die Einbeziehung von Richterrecht es nicht dazu kommen darf, dass alles beim Alten bleibt und der Gesetzgeber sich die Änderung des § 310 Abs. 4 BGB hätte sparen können (Preis, NZA 2004, 10...