Dr. iur. Martin Nebeling, Manfred Ehlers
Rz. 392
In der betrieblichen Praxis werden Sonderzahlungen häufig in einer Betriebsvereinbarung geregelt.
(1) Freiwillige Betriebsvereinbarung und Tarifvorrang
Rz. 393
Hierbei handelt es sich um sog. freiwillige Betriebsvereinbarungen, da der Betriebsrat bei der Regelung von Sonderzuwendungen kein erzwingbares Mitbestimmungsrecht hat, § 88 BetrVG. Ein Mitbestimmungsrecht besteht allenfalls hinsichtlich der formellen Ausgestaltung der Gratifikationszahlung, wenn ein Rechtsanspruch auf die Gratifikation besteht.
Rz. 394
Auch Betriebsvereinbarungen über Sonderzuwendungen stehen unter dem Vorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG. Soweit Gratifikationen üblicherweise durch Tarifvertrag geregelt werden, ist eine Betriebsvereinbarung darüber unzulässig. Eine unter Missachtung der Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG abgeschlossene Betriebsvereinbarung über Gratifikationszahlungen entfaltet keine Wirksamkeit und bleibt als Anspruchsgrundlage außer Betracht; sie kann auch nicht in eine begünstigende Gesamtzusage oder Betriebsübung umgedeutet werden (BAG v. 13.8.1980 – 5 AZR 325/78). Allerdings kann eine unwirksame Betriebsvereinbarung durch Umdeutung nach § 140 BGB zum Inhalt der Einzelverträge für Arbeitnehmer werden. Das setzt jedoch voraus, dass besondere tatsächliche Umstände vorliegen, aus denen die Arbeitnehmer nach Treu und Glauben schließen durften, dass sich der Arbeitgeber über die betriebsverfassungsrechtliche Verpflichtung hinaus für eine bestimmte Leistung binden wollte (BAG v. 24.1.1996 – 1 AZR 597/95; LAG Hamm v. 30.4.2004 – 15 Sa 2039/03).
(2) Nachwirkung
Rz. 395
Eine Betriebsvereinbarung gem. § 88 BetrVG über eine freiwillige Leistung, etwa über eine Sonderzahlung, entfaltet nach Ablauf einer Kündigungsfrist – anders als ein Tarifvertrag oder eine sog. erzwingbare Betriebsvereinbarung – keine Nachwirkung. Eine analoge Anwendung von § 77 Abs. 6 BetrVG oder § 4 Abs. 5 TVG scheidet aus. Die Arbeitnehmer haben nach Ablauf der Betriebsvereinbarung keinen Anspruch mehr auf die dort geregelten Sonderzahlungen (BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 20/09; BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 604/02). Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Arbeitgeber bei einer Kündigung einer Betriebsvereinbarung über freiwillige Leistungen beabsichtigt, die freiwillige Leistung vollständig entfallen zu lassen (BAG v. 26.10.1993 – 1 AZR 46/93; vgl. auch LAG Köln v. 15.8.2002 – 5 (3) Sa 617/02). Schließen die Betriebspartner jährlich eine Betriebsvereinbarung über die für das Kalenderjahr zu zahlende Weihnachtsgratifikation und vereinbaren sie dabei jeweils ausdrücklich, dass es sich um eine freiwillige Leistung handelt, aus deren Zahlung keine Ansprüche für künftige Jahre hergeleitet werden können, so hat die Leistungszusage keine Nachwirkung für das folgende Kalenderjahr. Die Nachwirkung ist im Zweifel auch für den Fall abbedungen, dass Verhandlungen über eine neue Regelung scheitern, der Arbeitgeber jedoch im folgenden Jahr gekürzte Gratifikationsbeträge freiwillig auszahlt (BAG v. 17.1.1995 – 1 ABR 29/94).
(3) Ausgestaltung und Überprüfbarkeit
Rz. 396
Die Grenzen der Ausgestaltungsmöglichkeiten der Betriebspartner sind bei einer Betriebsvereinbarung über eine Gratifikation enger im Vergleich zu tarifvertraglichen Abschlüssen. So dürfen Rückzahlungsklauseln in Betriebsvereinbarungen die vom BAG zur einzelvertraglichen Gestaltung gezogenen Grenzen (s. dazu unten Rdn 455 ff.) nicht überschreiten (LAG Hamm v. 14.8.1998 – 10 Sa 153/98). Parallel zu der Rechtsprechung des 10. Senats zur Unzulässigkeit von Stichtagsklauseln bei Sonderzuwendungen mit Mischcharakter (vgl. BAG v. 13.11.2013 – 10 AZR 848/12) hat auch der 1. Senat des BAG der Zulässigkeit von Stichtagsklauseln in freiwilligen Betriebsvereinbarungen erhebliche Einschränkungen auferlegt. Danach ist es nach § 88 BetrVG den Betriebsparteien verwehrt, den Anspruch auf eine variable Erfolgsvergütung vom Bestehen eines ungekündigten Anstellungsverhältnisses am Auszahlungstag abhängig zu machen. § 88 BetrVG erlaubt den damit verbundenen Entzug verdienten Arbeitsentgelts nicht. Die in einer solchen Stichtagsregelung enthaltene auflösende Bedingung beschränkt auch die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit des Arbeitnehmers übermäßig. Die Vorenthaltung einer bereits verdienten Arbeitsvergütung ist stets ein unangemessenes Mittel, die selbstbestimmte Arbeitsplatzaufgabe zu verzögern oder zu verhindern. Mit ihr sind Belastungen für den Arbeitnehmer verbunden, die unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen eines Arbeitgebers nicht zu rechtfertigen sind (BAG v. 5.7.2011 – 1 AZR 94/10; BAG v. 7.6.2011 – 1 AZR 807/09). Auch kann eine Betriebsvereinbarung die Kürzung einer Sondervergütung auch für solche Tage der Arbeitsunfähigkeit vorsehen, die auf einem Arbeitsunfall beruhen (BAG v. 15.12.1999 – 10 AZR 626/98). Ihr Inhalt unterliegt indessen anders als eine tarifliche Regelung einer zusätzlichen gerichtlichen Billigkeitskontrolle nach § 75 BetrVG (BAG v. 25.4.1991 – 6 AZR 183/90). Eine richterliche Inhaltskontrolle gem. §§ 305 ff. BGB ist hingegen gem. § 310 Abs. 4 S. 1 BGB ausgeschlossen (LAG Hamm v. 11.12.201...