Dr. iur. Martin Nebeling, Manfred Ehlers
Rz. 382
Die Gewährung von Gratifikationen ist gesetzlich nicht geregelt. Auf die Zahlung einer Sonderzuwendung besteht weder kraft Gesetzes, Gewohnheitsrechtes noch der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers ein Rechtsanspruch. Für sie muss stets eine besondere Rechtsgrundlage vorhanden sein. Der Rechtsgrund für eine Gratifikationszahlung kann sich aus einem Tarifvertrag, einer Betriebsvereinbarung, einer einzelvertraglichen Zusage, der betrieblichen Übung oder aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz ergeben.
aa) Tarifvertrag
Rz. 383
In zahlreichen Fällen sind Gratifikations- bzw. Sonderzahlungsansprüche in Tarifverträgen abgesichert. Fehlt eine tarifvertragliche Regelung oder ist sie nicht abschließend, können Gratifikationsregelungen auch in einer Betriebsvereinbarung getroffen werden. Vielfach finden sich tarifliche Öffnungsklauseln (§ 77 Abs. 3 S. 2 BetrVG) hinsichtlich der Festlegung des Auszahlungszeitpunktes einer Sonderzahlung.
(1) Geltungs- und Anwendungsbereich
Rz. 384
Ansprüche auf Gewährung einer Sonderzahlung oder Gratifikation erwachsen aus Tarifverträgen nur dann, wenn das Arbeitsverhältnis vom tariflichen Geltungsbereich erfasst wird und die Arbeitsvertragsparteien nach § 3 Abs. 1 TVG tarifgebunden sind oder der Tarifvertrag für allgemein verbindlich (§ 5 TVG) erklärt worden ist. Auf nicht tarifgebundene Arbeitnehmer ist eine tarifvertragliche Gratifikationsregelung nur dann anzuwenden, wenn sie von den Arbeitsvertragsparteien vertraglich in Bezug genommen und zum Gegenstand des Einzelarbeitsvertrages gemacht worden ist (BAG v. 12.10.2005 – 10 AZR 630/04; BAG v. 27.10.2004 – 10 AZR 138/04). Hierzu bedarf es aber einer Inbezugnahme des gesamten Tarifvertrags (BAG v. 27.6.2018 – 10 AZR 290/17). Fehlt auch eine ausdrückliche einzelvertragliche Bezugnahmeklausel, kann sich die Anwendbarkeit eines Tarifvertrages über Sonderzahlungen auch aus einer konkludenten Vereinbarung oder aus einer betrieblichen Übung ergeben (BAG v. 11.6.1975 – 5 AZR 206/74; LAG Hamm v. 29.9.1975 – 3 Sa 743/75; LAG Düsseldorf v. 12.5.1976 – 6 (10) Sa 802/75). Wird der Tarifvertrag aufgehoben oder abgeändert, entfaltet er im allgemeinen Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG).
(2) Anspruchsvoraussetzungen
Rz. 385
In Tarifverträgen sind regelmäßig die näheren Modalitäten für die zu erbringenden Sonderzahlungen oder Gratifikationen geregelt. Dazu zählen insb. die Anspruchsvoraussetzungen (z.B. Stichtags-, Wartezeitregelungen, Staffelungen nach Alter und/oder Betriebszugehörigkeit), die Höhe, Fälligkeit und Auszahlungstermin, Rückzahlungsklauseln und Gründe für die Kürzung und den Wegfall des Gratifikationsanspruches.
Rz. 386
Die Entstehung eines Anspruches kann grds. von der Zurücklegung einer Wartezeit abhängig gemacht werden (BAG v. 12.2.2003 – 10 AZR 293/02; BAG v. 8.12.1993 – 10 AZR 638/92). Den Tarifvertragsparteien ist es auch erlaubt, eine Sonderzahlung allein vom Bestand des Arbeitsverhältnisses oder auch von einer bestimmten tatsächlichen Arbeitsleistung des Arbeitnehmers im Bezugszeitraum abhängig zu machen (BAG v. 18.11.1998 – 10 AZR 387/98; BAG v. 6.12.1995 – 10 AZR 333/94; BAG v. 17.12.1992 – 10 AZR 427/91; BAG v. 5.8.1992 – 10 AZR 88/90). Eine tarifliche Regelung kann auch bestimmen, welche Zeiten ohne tatsächliche Arbeitsleistung sich anspruchsmindernd oder anspruchsausschließend auf die Sonderzahlung auswirken sollen (BAG v. 25.9.2013 – 10 AZR 850/12; BAG v. 25.2.1998 – 10 AZR 298/97; BAG v. 16.3.1994 – 10 AZR 669/92). Weiter kann ein Tarifvertrag für den Arbeitgeber eine Kürzungsmöglichkeit aus wirtschaftlichen Gründen vorsehen (BAG v. 20.2.2008 – 10 AZR 126/07). Über die ausdrückliche tarifvertragliche Regelung hinaus gibt es jedoch keinen Rechtssatz des Inhaltes, dass ein Anspruch auf die tarifliche Sonderzahlung auf jeden Fall eine nicht ganz unerhebliche tatsächliche Arbeitsleistung im Bezugszeitraum voraussetzt. Allein mit dem Zweck einer tariflichen Sonderzahlung kann ein Ausschluss- oder Kürzungstatbestand nicht begründet werden. Soll ein Anspruch auf eine Sonderzahlung oder dessen Umfang von der erbrachten tatsächlichen Arbeitsleistung abhängig gemacht werden, muss eine derartige Bestimmung in die tariflichen Regelungen aufgenommen werden. Allein aus der Tatsache, dass eine Sonderzahlung auch die im Betrieb geleistete Arbeit zusätzlich vergüten will, kann nicht entnommen werden, dass eine tatsächliche Arbeitsleistung im Bezugszeitraum ungeschriebene Voraussetzung für einen Anspruch auf die Sonderzahlung ist (BAG v. 18.11.1998 – 10 AZR 387/98; BAG v. 8.7.1998 – 10 AZR 404/97; BAG v. 25.2.1998 – 10 AZR 298/97; BAG v. 16.3.1994 – 10 AZR 669/92). In der Rechtsprechung hat sich in den vergangenen Jahren eine davon abweichende Auffassung herausgebildet. Hiernach kann eine tarifliche Sonderzahlung mit Vergütungscharakter durchaus an die tatsächlich erbrachten Arbeitsleistungen anknüpfen (BAG v. 21.1.2014 – 9 AZR 134/12).
Rz. 387
Den Tarifvertragsparteien steht es auch frei, die Gewährung einer Sonderzahlung durch Bindungsklauseln an den ungekündigten Bestand des Arbeitsverhältnisses zu einem bestimmten Zeitpunkt (Sti...