Rz. 425

Scheidet ein Arbeitnehmer vor der Gewährung der Gratifikation aus dem Arbeitsverhältnis endgültig aus, stellt sich häufig die Frage, ob dem Arbeitnehmer ein anteiliger Anspruch auf Gewährung der Sonderzahlung ("pro rata temporis") zusteht. Insoweit ist zwischen Sonderzahlungen mit reinem Entgeltcharakter, Gratifikationen, die allein die Betriebstreue belohnen sollen, und solchen mit Mischcharakter zu differenzieren.

Bei Sonderzuwendungen mit reinem Entgeltcharakter entfällt die Sondervergütung nicht insgesamt, sondern sie ist anteilig (pro rata temporis) für die Dauer des Arbeitsverhältnisses während des Bezugszeitraumes zu gewähren. Denn der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses ist nicht Bedingung der Gewährung. Sie wurde als reiner Vergütungsbestandteil, der in das vertragliche Austauschverhältnis von Vergütung und Arbeitsleistung (§ 611a BGB) eingebunden ist und mit dem kein weiter gehender Zweck verfolgt wird, anteilig verdient. Lediglich der Fälligkeitstermin der Auszahlung wurde zeitlich nach hinten, z.B. auf das Jahresende, verlagert. Der anteilige Anspruch auf Zahlung der Sondervergütung für die Zeit des Bestandes des Arbeitsverhältnisses besteht dabei, ohne dass es einer ausdrücklichen vertraglichen Regelung bedarf (BAG v. 19.4.1995 – 10 AZR 49/94; BAG v. 7.11.1991 – 6 AZR 489/89; BAG v. 13.6.1991 – 6 AZR 421/89).
Soll mit einer Gratifikation ausschließlich die Betriebstreue entlohnt werden, sind Zeiten ohne Bestehen eines Arbeitsverhältnisses anspruchsmindernd zu berücksichtigen, weil für die Zeit des Fehlens eines Arbeitsverhältnisses keine Betriebstreue erbracht worden ist. Es scheidet demnach – unter Berücksichtigung der von der Rechtsprechung gezogenen Grenzen – ein Anspruch auf Sondervergütung aus, wenn am maßgeblichen Stichtag kein Arbeitsverhältnis mehr besteht oder wirksam gekündigt wurde (BAG v. 7.11.1991 – 6 AZR 489/89).
In den Fällen, in denen beide Zweckelemente gewollt sind (Gratifikationen mit Mischcharakter) ist bei vorzeitigem Ausscheiden eines der beiden Zweckelemente, die Honorierung der Betriebstreue, nicht erfüllt. Nach der neuen Rechtsprechung darf der Anspruch jedoch nicht, auch nicht anteilig, entfallen, wenn er jedenfalls auch die geleistete Arbeit belohnen soll (BAG v. 13.11.2013 – 10 AZR 848/12; BAG v. 18.1.2012 – 10 AZR 612/10; anders noch: BAG v. 28.3.2007 – 10 AZR 261/06).
 

Rz. 426

Häufig wird bei Sonderzuwendungen mit Mischcharakter eine sog. Stichtagsklausel vereinbart. Die Auszahlung der Gratifikation wird davon abhängig gemacht, dass der Anspruch auf die Gewährung nur unter der Voraussetzung besteht, dass der Arbeitnehmer sich zu einem gewissen Zeitpunkt (z.B. 31.12.) in einem (ungekündigten) Arbeitsverhältnis befindet. Derartige Klauseln waren nach der ständigen Rechtsprechung des BAG grds. zulässig, allerdings nur bei Sonderleistungen, die (zumindest auch) die Betriebstreue des Arbeitnehmers honorieren sollen (BAG v. 26.10.1994 – 10 AZR 109/93; BAG v. 19.11.1992 – 10 AZR 264/91; BAG v. 25.4.1991 – 6 AZR 183/90; BAG v. 4.9.1985 – 5 AZR 655/84). Handelte es sich dagegen um eine Sonderzuwendung, die allein die erbrachte Arbeitsleistung vergüten sollte, dann war eine derartige Klausel unzulässig, da der Arbeitgeber nicht befugt war, dem Arbeitnehmer die Gegenleistung für dessen erbrachte Tätigkeit zu verwehren (BAG v. 18.1.2012 – 10 AZR 667/10). Der 10. Senat des BAG hat das Stichtagsverbot auch auf Sonderzuwendungen mit Mischcharakter ausgedehnt und seine bisherige Rechtsprechung ausdrücklich aufgegeben (BAG v. 13.11.2013 – 10 AZR 848/12; BAG v. 18.1.2012 – 10 AZR 612/10). Mit der Festlegung eines Auszahlungstages ist noch nicht zugleich auch eine Stichtagsregelung vereinbart. Die Vereinbarung der Auszahlung einer Gratifikation mit dem Novembergehalt kann eine bloße Fälligkeitsregelung darstellen und muss nicht voraussetzen, dass das Arbeitsverhältnis im November zum Auszahlungszeitpunkt noch besteht (BAG v. 21.12.1994 – 10 AZR 832/93; vgl. auch LAG Köln v. 24.9.2007 – 14 Sa 539/07). Durch eine bloße vorzeitige Zahlung einer tariflichen Sonderleistung oder durch eine Abschlagszahlung wird ein tariflich festgelegter Stichtag nicht vorverlegt, es sei denn, insoweit ist eine zulässige Betriebsvereinbarung oder eine ausdrückliche arbeitsvertragliche Fälligkeitsabrede getroffen worden (LAG Hamm v. 3.12.1999 – 10 Sa 1203/99; LAG Hamm v. 16.9.1994 – 10 Sa 475/94).

 

Rz. 427

Grds. darf der gewählte Stichtag nur innerhalb des Bezugszeitraumes der Leistung liegen. Dabei ist es zulässig, dass der Stichtag nicht durch ein Datum, sondern durch den Begriff "Auszahlungstag" festgelegt wird, sofern sich der maßgebliche Zeitpunkt dann aus anderen Vertragsklauseln ergibt. Teilweise finden sich in der Praxis allerdings Stichtagsregelungen, die den Stichtag auch außerhalb des Bezugszeitraumes festlegen. Hierdurch wird der Arbeitnehmer verstärkt angehalten, das Arbeitsverhältnis nicht zu beenden. Während er bei Vereinbarung eines Stichtages innerhalb des Bezugszeitraumes nur de...

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