Rz. 130
Der Pflichtteilsverzicht ist z.B. nach den Rechten Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, der Türkei und der skandinavischen Länder sowie Polens, Ungarns und nach tschechischem Recht möglich. Aber auch viele angloamerikanische Rechtsordnungen, wie der Staaten der USA, Irlands und Schottlands, lassen einen Verzicht zu. In den romanischen Rechtsordnungen ist er, wie schon im klassischen römischen Recht, vielfach noch unzulässig. Es ergeben sich dort aber mittlerweile Aufweichungen. So ist in Frankreich 2006 die Möglichkeit eines vertraglichen Verzichts auf die Herabsetzungsklage zu Lebzeiten des Erblassers eingeführt worden. In Italien kann nun bei Abschluss eines Familienvertrages i.S.v. Art. 768ter Abs. 2 it. CC (siehe § 18 Rdn 227) vereinbart werden, dass die am Vertrag beteiligten Pflichtteilsberechtigten wegen der Übertragung des Unternehmens im Erbfall nur noch die vertraglich vereinbarten Rechte haben und im Übrigen aus der Übergabe keine Pflichtteilsansprüche geltend machen können. Nach Ansicht einzelner islamischer Rechtsschulen kann der Testator aufgrund einer noch zu seinen Lebzeiten erklärten Zustimmung pflichtteilsberechtigter Angehöriger auch über die diesen zwingend zustehende Nachlassquote letztwillig verfügen. Ein "Pflichtteilsverzicht" in unserem Sinne kann in einer solchen Erklärung aber schwerlich erkannt werden, da die Zustimmung offenbar nicht bindend ist, sondern bis zum Tod des Erblassers widerrufen werden kann.
Rz. 131
Da der Pflichtteilsverzicht Verfügung über Rechte aus der Erbschaft nach dem Verzichtsempfänger ist, wird er erbrechtlich qualifiziert. Maßgeblich ist das für den Verzichtsempfänger geltende Erbstatut, da sich der Verzicht ausschließlich auf die Erbfolge nach dessen Tod bezieht. Da der Verzicht einen Vertrag darstellt, mit dem "Rechte am künftigen Nachlass entzogen werden", ist er "Erbvertrag" i.S.v. Art. 3 Abs. 1 lit. b EuErbVO.
Rz. 132
Daher gilt für die Zulässigkeit, Wirksamkeit und Bindungswirkung des Pflichtteilsverzichtsvertrages gem. Art. 25 Abs. 1 EuErbVO das an die Umstände bei Abschluss des Vertrages angeknüpfte Errichtungsstatut, so dass die Gültigkeit der Verzichtsvereinbarung durch eine spätere Änderung der für die Anknüpfung des Erbstatuts maßgeblichen Umstände (also nachfolgende Rechtswahl oder Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in einen anderen Staat) unberührt bleibt. Wegen der Geltung des effektiven Erbstatuts für die Verzichtswirkungen (siehe Rdn 136) ist diese Frage jedoch nicht alleinentscheidend.
Eine Falle ergibt sich hier aus Art. 25 Abs. 2 EuErbVO. Dieser unterstellt die Zulässigkeit mehrseitiger Erbverträge kumulativ sämtlichen der hypothetischen Erbstatute. Die Unwirksamkeit des Pflichtteilsverzichts nach dem Erbstatut eines einzigen der Erblasser hat also zur Folge, dass auch die gegenüber den übrigen Erblassern erklärten Pflichtteilsverzichte automatisch unwirksam sind.
Rz. 133
Erfolgt der Pflichtteilsverzicht nicht als gegenseitiger Verzicht, sondern als entgeltlicher Verzicht auf der Basis eines Schuldvertrages, so wird das auf das Kausalgeschäft anwendbare Recht nicht dem Errichtungsstatut unterstellt. Das wäre auch schlecht möglich, wenn aufgrund einer Nachlassspaltung oder einer Mehrheit von Erblassern verschiedene Errichtungsstatute nebeneinander zur Anwendung kämen. Vielmehr ist das Kausalgeschäft schuldvertraglich zu qualifizieren. Nach Art. 3 Rom I-VO gilt also das von den Beteiligten – am besten in ausdrücklicher Form – gemeinsam vereinbarte Recht.