Rz. 246
Das Ergebnis muss gem. Art. 35 EuErbVO mit der öffentlichen Ordnung des Gerichtsstaates offensichtlich unvereinbar sein. Insoweit ist interessant, dass sowohl Art. 35 EuErbVO als auch die Parallelvorschriften in anderen europäischen Verordnungen insoweit nicht auf einen "europäischen ordre public" verweisen, sondern auf den nationalen ordre public des Gerichtsstaates. Die Nationalisierung des ordre public stellt damit eine weitere Möglichkeit dar, dass trotz vereinheitlichter Kollisionsnormen in Europa die konkreten Ergebnisse aus der Rechtsanwendung unterschiedlich ausfallen können.
Rz. 247
Beispiele
1. |
So würde beispielsweise ein rumänisches Gericht die vertragsmäßige Bindung eines deutschen Erblassers, der mit letztem gewöhnlichen Aufenthalt in Rumänien verstirbt und den Erbvertrag gem. Art. 25 Abs. 3 EuErbVO unterstellt hat, nicht anerkennen. |
2. |
Fraglich ist, ob ein deutsches Gericht akzeptieren würde, dass ein seit Geburt in Deutschland lebender französischer Erblasser seiner ebenfalls hier lebenden deutschen Ehefrau jegliches Pflichtteilsrecht entziehen kann, indem er die Erbfolge dem französischen Recht unterstellt. |
Rz. 248
Es genügt des Weiteren nicht, dass das Ergebnis nach deutschem Recht anders oder entgegengesetzt lauten würde. Das Ergebnis muss "so anstößig sein und mit den deutschen Gerechtigkeitsvorstellungen in so starkem Widerspruch stehen, dass es untragbar erscheint". Das ist noch nicht der Fall, wenn der Umfang der Pflichtteile größer oder der Kreis der Pflichtteilsberechtigten weiter ist als im deutschen Recht und z.B. nichteheliche Lebensgefährten umfasst. Das Gleiche gilt dann, wenn Pflichtteile nicht als Geldzahlungsansprüche ausgestaltet sind, sondern als dingliche Beteiligung am Nachlass, Nießbrauch oder Beschränkung der Testierfreiheit auf einen Bruchteil des Nachlasses. Auch niedrigere oder fehlende Pflichtteile zugunsten naher Angehöriger wurden bislang von der Rechtsprechung hingenommen. Nach dem Schrifttum sollte dies zumindest so lange gelten, wie der Angehörige hierdurch nicht zum Sozialfall wird.
Rz. 249
Zweifel an dieser Auffassung wurden laut, nachdem das BVerfG in seiner Entscheidung vom 19.4.2005 das Pflichtteilsrecht in die Erbrechtsgarantie in Art. 14 GG eingestellt hatte. Teilweise wird die Ansicht vertreten, ein Pflichtteil der Kinder sei nun auch bei ausländischem Erbstatut bei ausreichender Inlandsberührung des Falls durch den ordre public garantiert. Das ist allerdings schon deswegen zweifelhaft, weil das BVerfG den verfassungsrechtlichen Schutz im Wesentlichen auf eine Institutsgarantie beschränkt und mit den historischen Wurzeln des deutschen Rechts begründet hat. Es ist allgemein anerkannt, dass nicht jeder Verfassungsverstoß der ausländischen Regelung auch schon einen Eingriff über den ordre public verlangt. In einem praktischen Anwendungsfall könnten die Gerichte kaum feststellen, ab welcher Schwelle die verfassungsrechtliche Garantie des Pflichtteils – die selbst schon nicht beziffert werden kann – so weit unterschritten ist, dass auch die Latte des ordre public gerissen wird.
Rz. 250
Im Beispiel 1 ist der Ausschluss der engsten Angehörigen von der gesetzlichen Erbfolge allein aus Gründen der Religionsverschiedenheit mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts (Art. 3 Abs. 2, Art. 4 Abs. 1 GG) unvereinbar. Das Gleiche gilt für ausschließlich auf dem Geschlecht beruhende ungleiche Erbquoten von Brüdern und Schwestern im oben genannten Fall. Das OLG Hamm hat darauf verwiesen, dass eine entsprechende letztwillige Verfügung des Erblassers anzuerkennen wäre. Erhält die überlebende Ehefrau keinen Pflichtteil und wird sie auch nicht auf andere Weise abgesichert (z.B. Unterhaltsansprüche gegen den Nachlass, güterrechtlicher Ausgleich, gesetzlicher Voraus in Form eines Wohnrechts an der Familienwohnung), so kann das Ergebnis aus deutscher Sicht durchaus unakzeptabel sein.
Im Beispiel 2 mag die Enterbung des Sohnes mit den vom BVerfG definierten Grundwerten des Erbrechts unvereinbar gewesen sein. Freilich hat der BGH hier eine individuelle Betrachtung des ihm vorgelegten Falls vermieden. Weder kam zur Sprache, dass es sich nicht um ein leibliches Kind, sondern um einen Adoptivsohn handelte, noch berücksichtigte der BGH, dass der Angenommene im Vertrag über die Annahme ausdrücklich auf das Erb- und Pflichtteilsrecht verzichtet hatte. Zwar hat der BGH darauf hingewiesen, dass der Verzicht aufgrund einer Übergangsklausel im Adoptionsrecht nach deutschem Erbrecht nicht mehr länger wirksam war. Für die Frage, ob die Versagung des Pflichtteils im konkreten Fall mit der öffentlichen Ordnung offensichtlich unvereinbar ist, spielt es aber schon eine Rolle, ob der Berechtigte sich mit dem Entzug des Pflichtteilsrechts einverstanden erklärt hatte, und zwar auch dann, wenn dieser Verzicht später aufgrund einer Änderung des Adoptionsrechts seine Wirkung verloren hatte. Schließlich wäre auch ohne Wahl e...