Rz. 53
Eine besondere Vertrauensschutzregelung enthält Art. 83 Abs. 4 EuErbVO: Wurde eine Verfügung von Todes wegen vor dem Anwendungsstichtag für die EuErbVO nach dem Recht errichtet, welches der Erblasser "gemäß dieser Verordnung hätte wählen können", so gilt dieses Recht als das auf die Rechtsfolge von Todes wegen anzuwendende gewählte Recht. Diese Regelung unterstellt eine Rechtswahl ohne Rücksicht darauf, ob sich der Erblasser über die Frage des anwendbaren Rechts Gedanken gemacht hat. Daher handelt es sich um keine stillschweigende Rechtswahl, sondern um eine "Fiktion".
Rz. 54
Beispiel
Ein in der Toskana lebender Rentner errichtet 1996 mit seiner Ehefrau gemeinschaftlich ein Testament. Die Tochter der beiden ist behindert, lebt in Deutschland in einer entsprechenden Einrichtung und erhält Sozialhilfe. Das gemeinschaftliche Testament der beiden ordnet daher Nacherbfolge und Testamentsvollstreckung nach dem Muster des "Behindertentestaments" an. Testamentsvollstrecker und Nacherbe soll der in Göttingen lebende Sohn der Eheleute werden. Der Ehemann ist 2001 verstorben. Die Ehefrau stirbt am 1.10.2023.
Rz. 55
Für die materielle Wirksamkeit des gemeinschaftlichen Testaments ist über Art. 83 Abs. 3 EuErbVO statt des gem. Art. 24 Abs. 1 EuErbVO geltenden italienischen Rechts (gewöhnlicher Aufenthalt der Eheleute bei Errichtung) auch das sich aus dem damaligen gemeinsamen Heimatrecht-IPR (Art. 25 Abs. 1 EGBGB) geltende deutsche Erbrecht anwendbar. Die Wirkungen des Testaments auf die Erbfolge nach dem Tod der Ehefrau freilich unterliegen gem. Art. 83 Abs. 1, 21 Abs. 1 EuErbVO dem italienischen Erbrecht, sollte diese auch noch zum Zeitpunkt ihres Todes ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Italien beibehalten haben.
Rz. 56
Das italienische Recht kennt ebenfalls die "Testamentsvollstreckung" und die "Vor- und Nacherbfolge" (sostituzione fedecomissaria). Der Testamentsvollstrecker kann aber nicht über den Nachlass verfügen. Die Testamentsvollstreckung erzeugt keine Abschirmwirkung. Nacherbschaft kann nur in Spezialfällen angeordnet werden. Die von den Eheleuten getroffenen Anordnungen würden bei Geltung italienischen Erbrechts daher voraussichtlich nicht den Nachlass in der beabsichtigten Weise dem Zugriff des deutschen Sozialhilfeträgers entziehen. Angesichts dieser Situation kann die Verfügung also wohl nur nach dem deutschen Recht errichtet worden sein. Dieses Recht konnte die überlebende Ehefrau auch gem. Art. 22 Abs. 1 EuErbVO wählen. Damit unterliegt die Erbfolge nach ihrem Tode dem deutschen Recht.
Rz. 57
Die Fiktion einer Rechtswahl gem. Art. 83 Abs. 4 EuErbVO greift unabhängig davon ein, ob nach den Umständen bei Errichtung des Testaments und der im Aufenthaltsstaat geltenden erbkollisionsrechtlichen Regelung das wählbare Heimatrecht überhaupt gegolten hätte. Haben also die Eheleute damals nicht in der Toskana, sondern in den französischen Pyrenäen gelebt, so wäre auf die Erbfolge nach der Ehefrau das deutsche Heimatrecht anwendbar, auch wenn sowohl nach dem zum Zeitpunkt der Errichtung dort geltenden nationalen französischen IPR wie auch nach dem zum Zeitpunkt des Todes geltenden europäischen IPR französisches Erbrecht gelten würde (!).
Rz. 58
Nach Ansicht von Dutta allerdings ist – damit die fiktive Rechtswahl nicht sämtliche Fälle der Testamentserrichtung vor dem Anwendungsstichtag erfasst – ein "Rechtsanwendungsbewusstsein" erforderlich, also das Bewusstsein des bzw. der Testierenden, unter einem bestimmten Recht zu handeln. Richtig dürfte hieran sein, dass bei der Bewertung nicht allein die Wirksamkeit des Testaments, sondern auch die Effektivität der in ihm enthaltenen Verfügungen zu berücksichtigen ist.