Rz. 259
Beispiel 1
Der ursprünglich französische, bei seinem Tod US-amerikanische Staatsangehörige Caron besaß eine an der Côte d’Azur belegene Eigentumswohnung. Er brachte diese in eine amerikanische Corporation ein, um die Entstehung von Pflichtteilen nach dem für in Frankreich belegene Immobilien geltenden französischen Erbrecht zu verhindern. Die Cour de Cassation bestätigte zwar, dass die Anteile an der Corporation als bewegliches Vermögen zu qualifizieren seien, obwohl es sich um eine reine Immobiliengesellschaft handele. Grundsätzlich gelte daher das amerikanische Wohnsitzrecht des Erblassers, wonach den Kindern keine Pflichtteile zuständen. Allerdings liege in dieser Gestaltung eine unzulässige Rechtsumgehung. Der Herabsetzungsklage des Sohnes wurde daher in Anwendung französischen Erbrechts stattgegeben.
Beispiel 2
Die Angenommene war deutsche Staatsangehörige, lebte aber bereits seit ihrer Jugendzeit in den USA und hatte dort geheiratet und eine Familie gegründet. 1992 ließ sie sich vom Annehmenden, dem Prinzen zu S-A, ebenfalls deutscher Staatsangehöriger, annehmen. Das Verfahren erfolgte in Texas vor dem dortigen county court. Das Gericht prüfte damals seine Zuständigkeit und bejahte aufgrund einer seit mehreren Monaten bestehenden Wohnung des Annehmenden in Texas eine residence des Annehmenden. Nach dem Tod des Annehmenden hielt das Kammergericht nach einer Beschwerde der leiblichen Kinder des Annehmenden den Beschluss des county court aufgrund Verstoßes gegen den verfahrensrechtlichen ordre public für nicht anerkennungsfähig, da die leiblichen Kinder des Annehmenden nach texanischem Recht nicht angehört werden mussten. Durch die Adoption seien sie in ihrem Erbrecht beeinträchtigt.
Rz. 260
Das Pflichtteilsrecht regt als freiheitsbeschränkender Faktor in besonderer Weise die Phantasie zur Rechtsumgehung an. Dies gilt umso mehr, als ein common core der westlichen, ja nicht einmal der europäischen Staaten im Pflichtteilsrecht nicht erkennbar ist, die Differenzen und Gegensätze der Rechtsordnungen also erheblich sind. Entscheidungen deutscher Gerichte, die sich mit der Rechtsumgehung im Erbrecht befassen, liegen nicht vor. Grund dafür mag aber wohl die besondere Scheu der Gerichte sein, mit dem Argument der Rechtsumgehung zu arbeiten.
Rz. 261
Die Erbrechtsverordnung enthält keine ausdrückliche Regelung zur Rechtsumgehung. Erwägungsgrund 26 der EuErbVO aber weist ausdrücklich darauf hin, dass ein Gericht nicht gehindert ist, Mechanismen gegen die Gesetzesumgehung im Bereich des internationalen Privatrechts einzusetzen. Insbesondere für die Rechtswahl in Art. 22 EuErbVO gibt es außerhalb der Beschränkung auf die Rechtsordnungen der Staaten, denen der Erblasser angehört, keine weiteren gesetzlichen Grenzen. Die Wahl des Heimatrechts scheint danach selbst dann wirksam zu sein, wenn zu diesem Staat außer der Staatsangehörigkeit keine effektiven Beziehungen bestehen. Freilich darf das Ergebnis nicht gegen den ordre public des Gerichtsstaates verstoßen, Art. 35 EuErbVO.
Rz. 262
Im Beispiel 2 wies der BGH darauf hin, dass grundsätzlich gem. § 109 Abs. 1 Nr. 4 FamFG die Anerkennung der ausländischen Entscheidung nur dann ausgeschlossen sei, wenn die Anwendung des ausländischen Rechts im konkreten Fall zu den Grundgedanken der deutschen Regelungen und den in ihnen enthaltenen Gerechtigkeitsvorstellungen in so starkem Widerspruch stehe, dass es nach den deutschen Vorstellungen untragbar erscheine. Allerdings seien die Beteiligten weniger schutzbedürftig, wenn sie bei intensiver Inlandsbeziehung des Sachverhalts das ausländische Gericht bewusst deshalb angerufen haben, um sich die weniger restriktiven Voraussetzungen des ausländischen Rechts nutzbar zu machen.
Rz. 263
Auch auf die Fälle der "dolosen Rechtserschleichung" gemünzt erscheint aber Art. 21 Abs. 2 EuErbVO. Ergibt sich ausnahmsweise aus der Gesamtheit der Umstände, dass der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes eine offensichtlich engere Verbindung zu einem anderen als dem Staat hatte, dessen Recht nach Art. 21 Abs. 1 EuErbVO anzuwenden wäre, so ist auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht dieses anderen Staates anzuwenden. Das soll gem. Erwägungsgrund 25 der EuErbVO z.B. für Fälle gelten, in denen der Erblasser erst kurz vor seinem Tod in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts umgezogen ist. Im Fall der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts zur Erschleichung eines pflichtteilsgünstigen Erbrechtsregimes ist also durchaus in der EuErbVO ein Hebel zur exceptio doli vorgegeben.