Rz. 68
Der gewöhnliche Aufenthalt bezeichnet den Daseinsmittelpunkt einer Person. Der EuGH hat im Rahmen der Auslegung von Art. 8 Abs. 2 der Brüssel IIa-VO für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eines minderjährigen Kindes auf den Ort verwiesen, "der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration" ist. Der entscheidende Unterschied zum Wohnsitzbegriff liege darin, dass beim gewöhnlichen Aufenthalt die tatsächlichen Umstände (soziale und familiäre Integration) im Vordergrund stehen, während beim Wohnsitzbegriff – abhängig von der nationalen Ausprägung – regelmäßig der Bleibewille (animus manendi) im Vordergrund steht. So führt der EuGH aus, dass der gewöhnliche Aufenthalt "anhand aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu ermitteln" sei. Maßgebend – aber wohl nicht abschließend – sind dabei folgende Umstände zu berücksichtigen:
▪ |
körperliche Anwesenheit in einem Mitgliedstaat |
▪ |
Hinweise, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit handelt:
▪ |
Integration in ein soziales und familiäres Umfeld |
▪ |
Dauer, Regelmäßigkeit und Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat |
▪ |
Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug in diesen Staat |
▪ |
Staatsangehörigkeit |
▪ |
geografische und familiäre Herkunft |
▪ |
Sprachkenntnisse |
▪ |
familiäre und soziale Bindungen |
|
Rz. 69
Es kommt also zu einem Doppeltatbestand, bei dem rein objektive Elemente – nämlich die körperliche Anwesenheit im entsprechenden Staat – mit subjektiven Elementen verkoppelt werden. Erst diese subjektiven Elemente geben dem Aufenthalt einer Person die Qualität des gewöhnlichen Aufenthalts. Dabei wird man diese an der Brüssel IIa-VO ausgerichtete Formel wegen ihrer Abstraktheit auch auf die EuErbVO übertragen können. Es ist nahezu selbstverständlich, dass man sich schneller in einem anderen Land einlebt, wenn man dorthin auf eigenen Antrieb gegangen ist, dort auch die engeren Familienangehörigen leben, man viele Freunde hat, die dortige Sprache spricht, dort schon früher gelebt hat oder gar von dorther stammt. Das gilt gleichermaßen für minderjährige Mündel wie für Erblasser, also regelmäßig Personen im fortgeschrittenen Alter.
Rz. 70
Im Detail freilich wird man im Erbrecht für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eine eher langfristige Betrachtung anstellen. Diese Akzentverschiebung ergibt sich aus Erwägungsgrund 23 S. 2 der EuErbVO:
Zitat
"Bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts sollte die mit der Erbsache befasste Behörde eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod und im Zeitpunkt seines Todes vornehmen und dabei alle relevanten Tatsachen berücksichtigen, insbesondere die Dauer und die Regelmäßigkeit des Aufenthalts des Erblassers in dem betreffenden Staat sowie die damit zusammenhängenden Umstände und Gründe. Der so bestimmte gewöhnliche Aufenthalt sollte unter Berücksichtigung der spezifischen Ziele dieser Verordnung eine besonders enge und feste Bindung zu dem betreffenden Staat erkennen lassen."
Rz. 71
Es ergibt sich also für das Erbrecht eine Verschiebung des Schwerpunkts auf die subjektiven Faktoren, während das Erfordernis der körperlichen Anwesenheit elastischer ausgelegt werden kann. Es ist also nicht erforderlich, dass der Erblasser in dem entsprechenden Staat verstorben ist. Es genügt, wenn er sich "in den Jahren vor seinem Tod" dort regelmäßig aufgehalten hat. Dabei kann man die "Regelmäßigkeit" – anders als den "überwiegenden Aufenthalt" – nicht von einer quantitativen Bewertung abhängig machen. Auch jährliche Weihnachtsbesuche in der Heimat sind regelmäßig. Hier entscheidet nicht die Dauer des Weihnachtsaufenthalts, sondern die Heimatzugehörigkeit.
Rz. 72
Bei Diplomaten und anderen Expatriates wird während der üblicherweise berufsbedingten befristeten Aufenthalte die soziale Integration regelmäßig die Ausnahme bleiben. Sie behalten daher ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Entsendestaat selbst dann, wenn sie dort schon seit zehn Jahren nicht mehr dauerhaft gewohnt haben. Sobald allerdings die konkrete Rückkehrabsicht aufgegeben wird, dürfte der Aufenthalt in der Fremde in einen gewöhnlichen Aufenthalt umkippen – freilich dies auch nicht zwingend, sondern allenfalls regelmäßig.
Rz. 73
Ähnlich wird es bei den Einwohnern der mediterranen Rentnerkolonien sein. Diese suchen selbst dann, wenn sie den überwiegenden Teil des Jahres in den südlichen Gefilden verbringen, soziale Kontakte allenfalls unter ihresgleichen und kehren für den Fall der Pflegebedürftigkeit wieder in die "Heimat" zurück. Es wäre lebensfremd, sie und ihre Angehörigen in erbrechtlicher Hinsicht einem Rechtssystem zu unterstellen, das sie nicht kennen und möglicherweise schon mangels Sprachkenntnis nicht zu begreifen vermögen.
Rz. 74
Die langfristige Sichtweise führt aber nicht dazu, dass erst ein langjähriger Aufenthalt zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts führt. In der Rechtssache Mercredi hat der EuGH festgestellt, "dass der gewöhnliche Aufenthalt grundsätzlic...