I. Allgemeiner Umfang des Erbstatuts nach der EuErbVO
Rz. 127
Das Erbstatut nach der EuErbVO umfasst sämtliche Fragen der Erbfolge. Das betrifft sowohl die Fragen der Erbberufung als auch des Erbgangs. Art. 23 EuErbVO enthält insoweit eine ausführliche Aufzählung der erfassten Fragen. Im Wesentlichen ausgenommen sind hierbei die Fragen, die dem Errichtungsstatut unterstellt werden (Art. 24–26 EuErbVO), und die Fragen der formellen Wirksamkeit von Testamenten (Art. 27 EuErbVO).
Rz. 128
Art. 1 Abs. 1 EuErbVO enthält einen Katalog von Fragen, die vom Anwendungsbereich der EuErbVO ausgenommen sind. Hierbei handelt es sich aber zumeist um Fragen, die nicht erbrechtlicher Art sind (z.B. Unterhaltsrecht, Gesellschaftsrecht), so dass dieser Aufzählung im Wesentlichen nur eine deklaratorische erläuternde Funktion zukommt. Ausgenommen ist insoweit allein die "Formwirksamkeit mündlicher Verfügungen von Todes wegen" (Art. 1 Abs. 2 lit. f EuErbVO), bei der es sich eindeutig um eine Frage des Erbrechts handelt, die aber offenbar aus politischen Hintergründen vom Anwendungsbereich ausgenommen wurde.
Rz. 129
Das Pflichtteilsrecht wird als Gegenstand des Erbstatuts ausdrücklich in Art. 23 Abs. 2 lit. h EuErbVO mit "der verfügbare Teil des Nachlasses, die Pflichtteile und andere Beschränkungen der Testierfreiheit sowie etwaige Ansprüche von Personen, die dem Erblasser nahestehen, gegen den Nachlass oder gegen die Erben" umschrieben. Mit dieser umständlichen Umschreibung soll deutlich gemacht werden, dass ungeachtet der rechtlichen Ausgestaltung als zwingende Erbquote, als Anspruch auf einen bestimmten Teil des Nachlasses, als Geldforderung in Höhe einer bestimmten Quote des Nachlasswerts oder als nach gerichtlichem Ermessen bestimmte Beteiligung am Nachlass etc. alle Formen von zwingenden Beteiligungen naher Angehöriger am Nachlass vom Erbstatut umfasst werden sollen. Ausweislich Art. 1 Abs. 2 lit. e EuErbVO gilt das auch für "Unterhaltsansprüche", die mit dem Tode entstehen. Auch dieser Klausel kommt eine rein deklaratorische Bedeutung zu, denn unterhaltsrechtlich sind nur solche Ansprüche zu qualifizieren, die unter Lebenden entstehen (siehe Rdn 220). Dennoch ist diese Klarstellung aber ohne Zweifel hilfreich.
II. Der Pflichtteilsverzicht im internationalen Erbrecht
1. Materielle Wirksamkeit des Verzichts
Rz. 130
Der Pflichtteilsverzicht ist z.B. nach den Rechten Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, der Türkei und der skandinavischen Länder sowie Polens, Ungarns und nach tschechischem Recht möglich. Aber auch viele angloamerikanische Rechtsordnungen, wie der Staaten der USA, Irlands und Schottlands, lassen einen Verzicht zu. In den romanischen Rechtsordnungen ist er, wie schon im klassischen römischen Recht, vielfach noch unzulässig. Es ergeben sich dort aber mittlerweile Aufweichungen. So ist in Frankreich 2006 die Möglichkeit eines vertraglichen Verzichts auf die Herabsetzungsklage zu Lebzeiten des Erblassers eingeführt worden. In Italien kann nun bei Abschluss eines Familienvertrages i.S.v. Art. 768ter Abs. 2 it. CC (siehe § 18 Rdn 227) vereinbart werden, dass die am Vertrag beteiligten Pflichtteilsberechtigten wegen der Übertragung des Unternehmens im Erbfall nur noch die vertraglich vereinbarten Rechte haben und im Übrigen aus der Übergabe keine Pflichtteilsansprüche geltend machen können. Nach Ansicht einzelner islamischer Rechtsschulen kann der Testator aufgrund einer noch zu seinen Lebzeiten erklärten Zustimmung pflichtteilsberechtigter Angehöriger auch über die diesen zwingend zustehende Nachlassquote letztwillig verfügen. Ein "Pflichtteilsverzicht" in unserem Sinne kann in einer solchen Erklärung aber schwerlich erkannt werden, da die Zustimmung offenbar nicht bindend ist, sondern bis zum Tod des Erblassers widerrufen werden kann.
Rz. 131
Da der Pflichtteilsverzicht Verfügung über Rechte aus der Erbschaft nach dem Verzichtsempfänger ist, wird er erbrechtlich qualifiziert. Maßgeblich ist das für den Verzichtsempfänger geltende Erbstatut, da sich der Verzicht ausschließlich auf die Erbfolge nach dessen Tod bezieht. Da der Verzicht einen Vertrag darstellt, mit dem "Rechte am künftigen Nachlass entzogen werden", ist er "Erbvertrag" i.S.v. Art. 3 Abs. 1 lit. b EuErbVO.
Rz. 132
Daher gilt für die Zulässigkeit, Wirksamkeit und Bindungswirkung des Pflichtteilsverzichtsvertrages gem. Art. 25 Abs. 1 EuErbVO das an die Umstände bei Abschluss des Vertrages angeknüpfte Errichtungsstatut, so dass die Gültigkeit der Verzichtsvereinbarung durch eine spätere Änderung der für die Anknüpfung des Erbstatuts maßgeblichen Umstände (also nachfolgende Rechtswahl oder Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in einen anderen Staat) unberührt bleibt. Wegen der Geltung des effektiven Erbstatuts für die Verzichtswirkungen (siehe Rdn 136) ist diese Frage jedoch nicht alleinentscheidend.
Eine Falle ergibt sich hier aus Art. 25 Abs. 2 EuErbVO. Dieser unterstellt die Zulässigkeit mehrseitiger Erbverträge kumulativ sämtlichen der hypothetischen Erbstatute. Die Unwirksamkeit des Pflichtteilsverzichts nach dem Erbstatut eines einzigen der Erblasser hat also zur Folg...