I. Entstehung der Nachlassspaltung
Rz. 285
Die Europäische Erbrechtsverordnung verfolgt den Grundsatz der Nachlasseinheit noch strenger als das EGBGB. Insbesondere kennt sie kein vorrangiges Einzelstatut für eine abweichende Anknüpfung des Erbstatuts bei Auslandsvermögen, wie dies Art. 3a EGBGB nach der deutschen Rechtsprechung vorsah. Dennoch können sich aus folgenden Gründen auch unter der Geltung der EuErbVO Fälle der Nachlassspaltung ergeben:
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gespaltene Rück- oder Weiterverweisung durch das IPR des Staates, in dem der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, Art. 34 EuErbVO; |
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besondere (sachrechtliche) Regelungen des Belegenheitsstaates in Bezug auf bestimmte unbewegliche Sachen oder Unternehmen i.S.v. Art. 30 EuErbVO, sofern sie auch besondere Regeln in Bezug auf den Pflichtteil enthalten – das dürfte z.B. in Bezug auf die Erbhofregeln gelten, sofern sie durch eine vom Verkehrswert abweichende Bewertung des Hofs effektiv zu einer Pflichtteilsminderung führen; |
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gem. Art. 75 Abs. 1 EuErbVO fortgeltende bilaterale Abkommen mit Nachlassspaltung, wie z.B. das Deutsch-Türkische Nachlassabkommen (siehe Rdn 20) und der Deutsch-Sowjetische Konsularvertrag (siehe Rdn 23). |
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Fraglich ist dagegen die Fortgeltung einer vor dem Anwendungszeitpunkt der EuErbVO ausgeübten nachlassspaltenden Rechtswahl nach dem nationalen IPR eines Mitgliedstaates (also z.B. gem. Art. 25 Abs. 2 EGBGB a.F.), Art. 83 Abs. 2 Fall 2 und 3 EuErbVO. Das Urteil des EuGH vom 9. September 2022 lässt vermuten, dass eine solche Rechtswahl unter der EuErbVO nicht wirksam bleibt (vgl. dazu Rdn 51). |
II. Ausgleich unterschiedlicher Pflichtteilsquoten
1. Einheitliche Verfügung über den gesamten Nachlass
Rz. 286
Aufgrund der selbstständigen Behandlung der einzelnen Nachlassteile sind die Pflichtteile für jede Masse getrennt zu beurteilen, und zwar grundsätzlich für jeden Spaltnachlass so, als ob es sich um den gesamten Nachlass handeln würde.
Rz. 287
Beispiel 1
Hinterlässt ein US-amerikanischer Erblasser mit letztem Wohnsitz in Ohio in Deutschland ein Grundstück, verweist für dieses Vermögen das internationale Erbrecht von Ohio auf das deutsche Recht zurück. Wenn der Erblasser sein gesamtes Vermögen seiner Geliebten vermacht hat, können seine erwachsenen Kinder daher in Bezug auf diesen Nachlassteil Pflichtteilsansprüche nach deutschem Recht geltend machen, auch wenn das am letzten gewöhnlichen Aufenthalt in Ohio geltende Erbrecht ihnen keinerlei Pflichtteile oder ähnliche zwingende Beteiligung am Nachlass gewähren würde.
Beispiel 2
Eine Unternehmerin aus Mannheim hat ihre Eltern zu alleinigen Erben eingesetzt. Ihre Villa in Antalya, deren Wert ca. ¼ ihres Vermögens ausmacht, hat sie ihrer Lebensgefährtin vermacht. Die Eltern könnten nun bzgl. der Villa in Antalya nach dem für diesen Nachlassteil geltenden türkischen Erbrecht (Art. 14 des Deutsch-Türkischen Nachlassabkommens i.V.m. Art. 75 Abs. 1 EuErbVO) einen Pflichtteil im Wert von insgesamt ¼ verlangen und mithin bzgl. des in der Türkei belegenen Immobilienvermögens die Erbeinsetzung der Lebensgefährtin wirtschaftlich auf ¾ reduzieren.
Rz. 288
Im Beispiel 1 widerspricht die Gewährung des Pflichtteils für das deutsche Grundvermögen dem materiellen Erbrecht von Ohio. Die Erhöhung der Pflichtteile durch das türkische Recht im Beispiel 2 widerspricht dem materiellen deutschen Recht, welches die testamentarische hälftige Teilung billigt. Das Ergebnis wird von der h.M. dennoch hingenommen. Bei der Nachlassspaltung sind die nebeneinander auf unterschiedliche Nachlassteile anwendbaren Rechte gleichberechtigt. Auch wenn das Ergebnis – aufs Ganze gesehen – beiden Rechtsordnungen widerspricht, besteht kein Anlass zur Anpassung, da das Ergebnis zwischen den Lösungen beider Rechte liegt, also einen Kompromiss darstellt.
Rz. 289
In einigen Fällen mag sich konkret jedoch eine andere Lösung ergeben. Zunächst wäre nämlich zu prüfen, ob die die Nachlassspaltung anordnende Kollisionsnorm überhaupt im Bereich des Pflichtteilsrechts eine entsprechende strenge Trennung durchsetzen will.
Rz. 290
So wäre im Beispiel 1 zu bedenken, dass im internationalen Erbrecht vieler US-Staaten Pflichtteilsrechte allein nach dem am domicile des Erblassers geltenden Recht bestimmt werden sollen. So wird vermieden, dass bei über mehrere Staaten verstreutem Nachlass die Pflichtteile sich unkoordiniert kumulieren. Aus deutscher Sicht bedeutet das, dass die Rückverweisung sich allein auf die Fragen der Wirksamkeit und Wirkungen des Testaments bezieht, das deutsche Pflichtteilsrecht aber nicht erfasst.
Rz. 291
Im Beispiel 2 ergibt sich aus dem Nachlassabkommen, welches die Nachlassspaltung anordnet, keine entsprechende Regelung. Dennoch wäre hier auf der sachrechtlichen Ebene, also im deutschen materiellen Erbrecht, zu prüfen, welche Konsequenzen sich aus der Herabsetzung der Verfügungen bzgl. des in der Türkei belegenen Immobiliennachlasses für die...