1. Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt
Rz. 59
Hat der Erblasser keine Rechtswahl (subjektive Anknüpfung) getroffen, so gilt gem. Art. 21 Abs. 1 EuErbVO das am letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers geltende Recht für die Erbfolge (objektive Anknüpfung des Erbstatuts). Dabei bezeichnet der "gewöhnliche Aufenthalt" den Lebensmittelpunkt einer Person.
Rz. 60
Auch wenn der gewöhnliche Aufenthalt schon lange als Anknüpfungspunkt verwandt wird, bleiben seine Konturen weiterhin schemenhaft. Die EuErbVO enthält keine Definition des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts. Stattdessen hat man ihm zwei Erwägungsgründe (EG 23 und 24 der EuErbVO) gewidmet. Es verwundert daher nicht, dass zahlreiche grundsätzliche Fragen hinsichtlich der Bestimmung des "gewöhnlichen Aufenthalts" weiterhin ungeklärt sind und ihre Behandlung in der Literatur weiterhin umstritten ist.
2. Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts
a) Erbrechtsspezifischer Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts
Rz. 61
Die Unklarheiten beginnen schon mit der Frage, ob nicht zumindest im Internationalen Privatrecht der Europäischen Union der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts einheitlich auszulegen sei, der gewöhnliche Aufenthalt im internationalen Erbrecht also genauso bestimmt werden müsse wie in anderen Rechtsakten der Europäischen Union auf dem Gebiet des Internationalen Privatrechts und des Internationalen Zivilverfahrensrechts. Die bisherige Rechtsprechung des EuGH befasste sich weit überwiegend mit dem Aufenthalt von Kindern im Rahmen der Brüssel IIa-VO.
Rz. 62
Der EuGH hat schon in seiner Entscheidung in der Rechtssache "A" am 2.4.2009 festgestellt, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts in anderen Bereichen des Rechts der Europäischen Union nicht unmittelbar auf die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts von Kindern i.S.v. Art. 8 Abs. 1 Brüssel IIa-VO übertragen werden könne. Das lässt zwar noch den Weg offen, den gewöhnlichen Aufenthalt zumindest auf dem gesamten Bereich des IPR einheitlich zu bestimmen. Der EuGH verweist im Weiteren auch darauf, dass bei der Auslegung "auf den Kontext der Vorschriften der Verordnung und auf deren Ziel" abzustellen sei, wie es "namentlich aus ihrem zwölften Erwägungsgrund hervorgeht, wonach die in der Verordnung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet wurden". Damit hat sich der EuGH auf eine an den konkreten Zielen einer einzelnen Verordnung orientierte Auslegung festgelegt und einer einheitlichen Auslegung im Bereich des gesamten IPR damit eine Absage erteilt.
Rz. 63
In der Entscheidung Mercredi vom 22.12.2010 bestätigte er dies: "Da EG-Recht für die Ermittlung des Sinnes und der Bedeutung des Begriffs nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, ist auf den Kontext der Vorschriften der Verordnung und auf deren Ziel abzustellen." Damit ist die autonome Auslegung nicht nur insoweit durchzuführen, als diese unabhängig von den nationalen Begriffen durchzuführen ist. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts wird sogar unter Orientierung auf den Kontext der Vorschriften und das Ziel der jeweiligen konkreten Verordnung ausgelegt.
Rz. 64
In den Text der EuErbVO ist diese Sichtweise eingeflossen. So bestimmt Erwägungsgrund 23 der EuErbVO, dass "bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts die mit der Erbsache befasste Behörde eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod und im Zeitpunkt seines Todes vornehmen und dabei alle relevanten Tatsachen berücksichtigen solle, insbesondere die Dauer und die Regelmäßigkeit des Aufenthalts des Erblassers in dem betreffenden Staat sowie die damit zusammenhängenden Umstände und Gründe". Von den Anhängern der einheitlichen Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts wird hierzu vorgetragen, sie vermöchten nicht zu erkennen, warum die Ziele der Verordnung eine besonders enge und feste Verbindung zum betreffenden Staat erforderten. Dennoch lässt sich aber – bei aller Unbestimmtheit dieser Klausel – nicht der Auftrag an die Rechtsprechung verkennen, den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Rahmen der EuErbVO "erbrechtsspezifisch" auszulegen, also z.B. eine langfristigere Bindung zum betroffenen Staat zu verlangen, als dies z.B. für die Anwendung des Unterhaltsrechts erforderlich ist.
Rz. 65
Die deutschen Gerichte sind dem bereits gefolgt, indem sie in mehreren erbrechtlichen Entscheidungen – mehr oder weniger bewusst – für die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers eine langfristige Betrachtung anstellten, die bei Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts in anderen Zusammenhängen bislang nicht bekannt war.
Rz. 66
Im Rahmen der EuErbVO stellt sich dann wieder die Frage, ob die unterschiedliche Funktion des Anknüpfungspunktes im Rahmen des Bestimmung des Erbstatuts und im Rahmen der Bestimmung der internationalen gerichtlichen Zuständigkeit nicht auch eine unterschiedliche Auslegung des Begriffs im Rahmen von Art. 4 EuErbVO und im Rahmen von Art. 2...