1. Entstehung von Wertungswidersprüchen
Rz. 276
Das Pflichtteilsrecht weist enge Bezüge zum Unterhalts- und Güterstatut auf. In den einzelnen Rechtsordnungen wird auf unterschiedlichen Wegen die Absicherung naher Angehöriger, insbesondere des überlebenden Ehegatten, verschiedenen Rechtsbereichen zugewiesen. Im schwedischen und finnischen Recht sorgt z.B. der gesetzliche Güterstand der allgemeinen Gütergemeinschaft für eine finanzielle Absicherung des überlebenden Ehegatten, so dass auf Pflichtteilsrechte weitgehend verzichtet werden kann (güterrechtliche Lösung). In England und Schottland ist umgekehrt im Erbfall kein güterrechtlicher Ausgleich vorgesehen, sondern eine großzügige erbrechtliche Beteiligung des überlebenden Ehegatten am Nachlass (erbrechtliche Lösung). Kommt es in internationalen Ehen zu Kombinationen unterschiedlicher Systeme (finnisches Erb- und englisches Güterstatut; schwedisches Güter- und schottisches Erbstatut), kann es zu Rechtsfolgen kommen, die dem Sinn beider beteiligter Rechtsordnungen widersprechen.
Rz. 277
Beispiele
So erhielte bei finnischem Erb- und englischem Güterstatut der überlebende Ehegatte nach dem finnischen Erbrecht keinen Pflichtteil und könnte nach englischem Güterrecht auf keine güterrechtlich begründete Beteiligung am Vermögen des verstorbenen Ehegatten hoffen (Beispiel 1). Dagegen erhielte er bei schwedischem Güter- und schottischem Erbstatut zunächst nach schwedischem Güterrecht die Hälfte des sich bei Vereinigung der Vermögensmassen beider Eheleute ergebenden Gesamtguts und von der dem Nachlass zufallenden Hälfte am Gesamtgut noch einmal mindestens ein Drittel als legal right nach schottischem Erbrecht (Beispiel 2).
Rz. 278
Diese Ergebnisse können nicht befriedigen, denn das englische Recht verzichtet im Erbfall auf die im Fall der Auflösung der Ehe durch Scheidung durchzuführende güterrechtliche Vermögensaufteilung nur, weil die erbrechtliche family provision im Erbfall zu einem vergleichbaren Ergebnis führt – nämlich einer hälftigen Teilung des matrimonial property; das finnische Erbrecht dagegen gewährt dem Ehegatten keinen Pflichtteil, weil dieser im finnischen Recht über den gesetzlichen Güterstand abgesichert ist. Dass der Ehegatte in der ersten Konstellation gar nichts erhält, widerspricht mithin beiden beteiligten Rechtsordnungen. Bei der zweiten Konstellation dagegen ist er zu Lasten der Abkömmlinge doppelt versorgt, obwohl keine der beteiligten Rechtsordnungen – würde sie gleichzeitig die güter- und die erbrechtlichen Verhältnisse regeln – ihm mehr als die Hälfte des Nachlasses gewähren würde. Solche Wertungswidersprüche sind möglich, wenn im Erb- und Familienrecht angesiedelte Mindestsicherungen zugunsten Angehöriger aufgrund einer Koppelung aus unterschiedlichen Systemen stammender Teile zu einer Über- (Normenfülle) oder Unterversorgung (Normenmangel) führen.
Rz. 279
In gleicher Weise kann eine Überversorgung eintreten, wenn das güterrechtliche Viertel aus § 1371 Abs. 1 BGB bei deutschem Güterstatut mit einem Ehegattenerbteil aus ausländischem Erbstatut zusammentrifft, der über dem liegt, was der Ehegatte bei deutschem Erbstatut nach § 1931 Abs. 1 BGB erhielte (siehe Rdn 212).
Rz. 280
Darüber hinaus können Wertungswidersprüche auch bei der Nachlassspaltung eintreten, wenn für die Berechnung der Pflichtteilsrechte an der einen Masse freiwillige Zuwendungen des Erblassers aus der anderen Masse nicht berücksichtigt werden.
2. Lösungswege
a) Ausgleich in einem der beteiligten Rechte
Rz. 281
Zur Verminderung der Widersprüche durch Angleichung (Anpassung) sind zwei Wege denkbar: Die Lösung kann sich schon aus einer der beteiligten materiellen Rechtsordnungen ergeben, insbesondere wenn hier die Beteiligung ermessens- oder als Unterhaltsanspruch bedarfsabhängig ausgestaltet ist.
Die Berechnung der family provision an den überlebenden Ehegatten nach englischem Erbrecht im Beispiel 1 erfolgt nach Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung, ob der Erblasser für den Ehegatten "angemessene finanzielle Vorsorge" getroffen hat. Soweit dieser bereits auf güterrechtlichem Wege ausreichend versorgt ist, entfällt wohl die "moralische Verpflichtung" des Erblassers zu erbrechtlichen Zuwendungen, ggf. wäre der Ertrag aus der güterrechtlichen Auseinandersetzung anzurechnen.
b) Bildung von "Sachnormen im IPR"
Rz. 282
Außerhalb der family provision und einiger sozialistischer Erbrechte sind jedoch Pflichtteile zumeist quotenmäßig fixiert und auch güterrechtliche Auseinandersetzungen erfolgen nach fixen Regeln. Hier kann eine Anpassung im Wege einer durch das IPR geschaffenen Sachnorm erfolgen, nach der der Pflichtteilsberechtigte insgesamt nicht mehr, aber auch nicht weniger erhält, als ihm jede der beteiligten Rechtsordnungen, wäre sie allein anwendbar, gewähren würde. Die Rechte sind daher, je nach Sachlage,...