Rz. 315
Pflichtteilsergänzungsansprüche stellen kollisionsrechtlich besondere Probleme, da neben die horizontale Zuordnung zu den einzelnen Nachlassteilen die zeitliche Dimension tritt. Diese wirft nicht nur die Frage auf, wie ein temporaler Statutenwechsel für die einschlägige Nachlassmasse zu bewerten ist. Die Zuordnung wird auch hypothetisch, da der Gegenstand allenfalls fiktiver Nachlassbestandteil ist.
Rz. 316
Beispiel
Ein in Essen lebender türkischer Staatsangehöriger hat ein in Deutschland belegenes Grundstück unter Nießbrauchsvorbehalt seinem dort lebenden Neffen geschenkt. Später verarmt er völlig und hinterlässt drei Kinder. Testamentarische Alleinerbin ist seine Ehefrau. Die Ehefrau und die Kinder machen nun wegen der Schenkung gegen den Neffen Ansprüche aus § 2325 BGB geltend. Dieser wendet ein, das türkische Recht kenne eine Pflichtteilsergänzung nur für Schenkungen, die im letzten Jahr vor dem Tod vorgenommen wurden. Da der Erblasser keine Immobilien hinterlassen habe, käme hier gem. § 14 des Deutsch-Türkischen Nachlassabkommens (siehe dazu Rdn 20) kein deutsches Erbrecht, sondern das türkische Heimatrecht des Erblassers zur Anwendung.
Rz. 317
Im Rahmen einer Nachlassspaltung wird der verschenkte Gegenstand nach wohl überwiegender Meinung der Nachlassmasse zuzuordnen sein, der der verschenkte Vermögenswert angehören würde, wenn die Schenkung unterblieben wäre. Das lässt sich daraus herleiten, dass der Pflichtteilsberechtigte im Rahmen der Pflichtteilsergänzung so gestellt werden soll, als ob die seinen Pflichtteil verletzende Verfügung unterblieben wäre. Sollte es aufgrund der Nachlassspaltung zu Widersprüchen kommen, erfolgt die Angleichung wie im Rahmen der Berechnung der Pflichtteilsrechte. Durch Zurechnung zum Nachlass kommt es also nicht nur zu "fiktivem Nachlass", sondern ggf. auch zu einer "fiktiven Nachlassspaltung".
Im Beispiel wäre mithin das Grundstück aufgrund der Verweisung in § 14 des Deutsch-Türkischen Nachlassabkommens einem eigenen deutschen Spaltnachlass zuzuordnen und nach deutschem Recht zu behandeln. Damit gilt die Zehnjahresfrist aus § 2325 Abs. 3 BGB.
Rz. 318
Allerdings wird vielfach eine Einschränkung gemacht: Liege im Erbfall kein inländisches Immobilienvermögen vor (bzw. kein Spaltnachlass, dem der Gegenstand angehören würde), trete keine Nachlassspaltung ein, eine solche sei rein fiktiv. Die Schenkung sei daher nach dem Erbstatut zu beurteilen, das für den tatsächlich hinterlassenen Nachlass gelte. Diese Ansicht ist abzulehnen. Im Rahmen der Durchsetzung der Pflichtteilsansprüche werden die zu Lebzeiten verschenkten Gegenstände durch gerichtliche Herabsetzungsklage etc. u.U. sogar in natura wieder zum Nachlass gezogen (Realkollation). Die Spaltung würde dann wieder real werden.
Rz. 319
Es besteht auch kein zwingender Grund dafür, für den Pflichtteilsschutz wegen leibzeitiger und letztwilliger Verfügungen kollisionsrechtlich zur differenzieren. Die Geltung des für diesen verschenkten Vermögensbestandteil maßgeblichen Erbstatuts auch für die Pflichtteilsergänzung hinge entscheidend davon ab, ob der Erblasser den gesamten Spaltnachlass veräußert hat oder später vielleicht erneut Vermögen erworben hat, das die Nachlassspaltung auslösen würde. Zudem würde die Missachtung der Nachlassspaltung dazu führen können, dass die Veräußerung des Grundstücks zu Lebzeiten Pflichtteilsergänzungsansprüche zugunsten von Personen begründet, die bei letztwilliger Verfügung über diesen Vermögensgegenstand keinerlei oder geringere Pflichtteile hätten.
Rz. 320
Damit gilt also die hypothetische Nachlassspaltung. Freilich wäre dann auch in diesem Fall zu ermitteln, ob der Pflichtteilsberechtigte bereits seine Mindestbeteiligung am Nachlass in Form des – auf Basis der hypothetischen Nachlassspaltung berechneten – "Gesamtpflichtteils" durch testamentarische Verfügungen oder lebzeitige Zuwendungen etc. erhalten hat. In diesem Fall würde also auch im Rahmen der hypothetischen Nachlassspaltung der Pflichtteil wieder erlöschen.