Rz. 247
Da sich bei streng objektiver Beurteilung erhebliche Risiken insbesondere für den Versicherungsnehmer ergeben, der sich u.U. Behandlungen ausgesetzt sieht, die nicht erforderlich, überzogen oder gar falsch sind, und da zudem in der medizinischen Wissenschaft angesichts unterschiedlicher Lehrmeinungen eine "richtige" bzw. "falsche" Therapie nicht immer einwandfrei und rechtzeitig festzustellen ist, hat die Rechtsprechung seit 1978 auf den Begriff der Vertretbarkeit abgestellt.
Rz. 248
Definition
Hiernach ist die medizinische Notwendigkeit einer Maßnahme i.S.d. § 1 Abs. 2 MB/KK dann vertretbar, wenn sie sowohl in begründeter und nachvollziehbarer wie wissenschaftlich fundierter Vorgehensweise das zugrunde liegende Leiden diagnostisch hinreichend erfasst und eine ihm adäquate geeignete Therapie anwendet.
Rz. 249
Die medizinische Notwendigkeit einer Maßnahme ist hiernach im Regelfall zu bejahen, wenn eine wissenschaftliche Methode zur Verfügung steht, die geeignet ist, die Krankheit zu heilen oder zu lindern. Zwar hat der BGH in seiner Entscheidung vom 29.11.1978 grundsätzlich an der objektiven Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit der Heilbehandlung festgehalten, gleichzeitig aber den gelegentlichen Unwägbarkeiten der Medizin wie folgt Rechnung getragen: Es gebe – so argumentiert der BGH – ärztliche Behandlungsmaßnahmen, die medizinisch vertretbar, gleichwohl aber nach allgemein anerkannten und medizinischen Erkenntnissen nicht "notwendig" sind; solche Maßnahmen wären möglicherweise keine notwendige Heilbehandlung i.S.d. Allgemeinen Versicherungsbedingungen. Notwendige Heilbehandlung seien derartige Maßnahmen aber jedenfalls dann, wenn es nach den objektiven medizinischen Befunden und Erkenntnissen vertretbar sei, sie als notwendig anzusehen. Die Frage, welche Therapie bei einer bestimmten Krankheit richtig und notwendig ist, könne in der medizinischen Wissenschaft durchaus umstritten und die Richtigkeit einer Auffassung oft erst nach Jahren zu entscheiden sein. Dies könne nicht auf Kosten des Versicherungsnehmers gehen, so dass von ihm mehr als der Nachweis, die Behandlung sei nach den damaligen medizinischen Befunden und Erkenntnissen vertretbar gewesen, nicht verlangt werden könne. Hierdurch wird dem behandelnden Arzt ein größerer Ermessens- und Entscheidungsspielraum bei der Festlegung seines Vorgehens eingeräumt.
Rz. 250
Es genügt nach allem jedoch nicht, dass die Heilbehandlung dem Arzt sinnvoll, nützlich oder vertretbar erscheint; vielmehr muss der Arzt aufgrund der ihm bekannten medizinischen Befunde davon überzeugt sein, dass die Behandlung notwendig ist.
Rz. 251
Zusammenfassend ist festzustellen, dass medizinische Notwendigkeit dann gegeben ist, wenn
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nach den objektiv medizinischen Befunden, |
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nach medizinischen Erkenntnissen (Schulmedizin, alternative Medizin, Außenseitermethoden), |
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im Zeitpunkt der Vornahme der ärztlichen Behandlung es vertretbar war, sie als notwendig anzusehen. |