Rz. 259
Schließlich stellt sich bei der medizinisch notwendigen Heilbehandlung die Frage, ob bei der Prüfung der Vertretbarkeit auch die Höhe der Kosten eine Rolle spielen darf und muss.
Rz. 260
Der BGH hat in einem Urt. v. 12.3.2003 grundlegend neue Akzente gesetzt. Durch die sog. Privatklinik-Entscheidung wird nicht nur zur Frage der Sittenwidrigkeit von Fallpauschalen Stellung genommen, sondern es wird auch dem Grundsatz, dass wirtschaftliche Aspekte im Zusammenhang mit der medizinisch notwendigen Heilbehandlung zu berücksichtigen sind, eine klare Absage erteilt.
Rz. 261
Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Kläger verlangte von der Beklagten die Erstattung von Krankenhauskosten. Dem Versicherungsvertrag mit der Beklagten lagen die MB/KK 76 zugrunde. Der Kläger unterzog sich drei minimalinvasiven Bandscheibenoperationen in einer privaten Belegklinik, die nicht der BPflV unterliegt. Als Entgelt für die Klinikleistung – ohne Arztkosten – stellte diese eine "selbstdefinierte Fallpauschale" in Rechnung und zwar für die beiden ersten stationären Behandlungen von jeweils zwei Tagen und einer Nacht, pro Aufenthalt 12.644 DM, für den dritten Klinikaufenthalt – sechs Nächte – insgesamt 20.996 DM. Das Landgericht hat die Klage des Klägers auf Zahlung der Hälfte der Fallpauschale – bezüglich der weiteren Hälfte war er beihilfeberechtigt – abgewiesen. Das OLG Frankfurt a.M. hat ihr stattgegeben, die Revision der Beklagten hatte keinen Erfolg.
Rz. 262
Der BGH hat sich im Ergebnis dagegen ausgesprochen, im Rahmen der Erstattungsverpflichtung des § 1 Abs. 2 S. 1 MB/KK 76 Kostengesichtspunkte zu berücksichtigen. Die Erstattungsfähigkeit der von der Klinik berechneten Fallpauschale stand nach Meinung des BGH in Einklang mit § 1 Abs. 2 S. 1 MB/KK 76; bei der Frage der Erstattungsfähigkeit zusätzlich Kostengesichtspunkte zu berücksichtigen, wie dies von der bisherigen Rechtsprechung und Literatur getan wird, sei nicht angemessen. Da § 1 Abs. 2 S. 1 MB/KK 76 so auszulegen sei, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs dies verstehen müsse, könne er nicht ohne weiteres ersehen, dass auch finanzielle Aspekte bei der Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit der Heilbehandlung eine Rolle spielen sollten. Der BGH stellte ab auf die Formulierung "medizinisch notwendige" und leitete hieraus her, dass ein Abstellen darüber hinaus auf "wirtschaftlich notwendige" Heilbehandlungen nicht zu erkennen sei. Für den Versicherungsnehmer erschließe es sich nicht, dass der Versicherer seine Leistungspflicht nur auf die billigste Behandlungsmethode beschränken will. Zudem teile sich dem Versicherungsnehmer nicht mit, nach welchen Maßstäben die medizinische Gleichwertigkeit von Heilbehandlungen zu beurteilen sein soll.
Rz. 263
Schließlich verneinte der BGH auch die Möglichkeit der Kürzung des Erstattungsanspruchs gem. § 5 Abs. 2 MB/KK 76, da diese Regelung lediglich die sog. Übermaßbehandlungen betreffe, also Leistungen, die in ihrer einzelnen Ausgestaltung nicht medizinisch notwendig gewesen sind. Diese Übermaßbehandlung erstreckte sich – im Gegensatz zu der früheren Rechtsprechung – nicht auf eine Übermaßvergütung, da der Versicherungsnehmer dem Wortlaut des § 5 Abs. 2 MB/KK 76 nicht entnehmen könne, dass mit der Überschreitung des medizinisch notwendigen Maßes auch ein wirtschaftliches Übermaß gemeint sei.
Rz. 264
Diese für die private Krankenversicherung in 2003 richtungweisende Entscheidung hat erwartungsgemäß ein sehr unterschiedliches Echo in der Literatur gefunden.
Ein Problempunkt war die Basis für die Auslegung des § 1 MB/KK 76, die der BGH allein auf der Grundlage der vom ihm in ständiger Rechtsprechung geforderten Auslegung der AVB vorgenommen hatte, nämlich aus der Sicht des Versicherungsnehmers, obschon 1994 bereits die §§ 178a f. VVG a.F. in Kraft getreten waren und § 178b Abs. 1 VVG a.F. genauso wie nunmehr auch § 192 Abs. 1 VVG ebenfalls den Begriff "medizinisch notwendige Heilbehandlung" enthielt, so dass diese Formulierung inzwischen Gesetz ist. Während grundsätzlich AVB nicht nach einer fachwissenschaftlichen Terminologie auszulegen sind, so sind demgegenüber AVBs, die wörtlich oder inhaltlich dem Gesetz entsprechen, wie das Gesetz selbst auszulegen, da im Zweifel auch die Bedingungen nicht anders verstanden werden sollen als das Gesetz. Danach ist der Begriff der notwendigen Heilbehandlung jedenfalls seit dem 29.7.1994, dem Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen Bestimmung, allein nach den Methoden der "gesetzesähnlichen" Rechtsanwendung zu handhaben.
Rz. 265
Weitreichende Konsequenzen für die Versicherer aus dieser Entscheidung wurden zwar befürchtet, sind aber letztendlich nicht eingetreten.
Soweit in Altverträgen über eine Bedingungsanpassung gem. § 18 MB/KK 94 bzw. § 178g Abs. 3 VVG a.F. versucht wurde, die "alte" Rechtslage wieder herzustellen, um Kostengesichtspunkte bereits bei der...