Dr. iur. Matthias Franzke
I. Grundlegung
Rz. 4
Die private Unfallversicherung ist Personenversicherung und Summenversicherung im Sinne der abstrakten Bedarfsdeckung. Bei Eintritt des Versicherungsfalls werden die vertraglich im Voraus festgelegten Leistungen (z.B. Invaliditätsleistung, Tagegeld, Krankenhaustagegeld etc.) erbracht. Die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen – im Folgenden kurz AUB – sehen in ihren neueren Fassungen auch Leistungsarten mit konkreter Kostenerstattung vor (2.7. AUB 2014: Kosten für kosmetische Operationen und 2.8. AUB 2014: Kosten für Such-, Bergungs- und Rettungseinsätze). Insoweit haben diese Schadencharakter.
Der Anwalt des Geschädigten muss bei der Feststellung möglichen Versicherungsschutzes das Spektrum vertraglicher Konstruktionen berücksichtigen. Neben der klassischen Einzelversicherung existieren in einer Vielzahl Gruppen- (Beispiel Arbeitgeber) und Familien-Unfallversicherungsverträge. Ebenso kann Unfallversicherungsschutz im Rahmen einer Multirisk-Police, einer Unfallzusatzversicherung zur Lebensversicherung sowie einer kreditkartenbasierten Verkehrsmittel-Unfallversicherung bestehen.
Rz. 5
Für die Fallbearbeitung sind zunächst die gesetzlichen Regelungen der §§ 1–73 VVG (Allgemeiner Teil) sowie der §§ 178–191 VVG (Unfallversicherung) zu beachten. Dabei sind die Unfreiwilligkeitsvermutung, die Hinweispflichten des Versicherers, die Erklärungspflicht des Versicherers, die Fälligkeit von Leistungen, die Vorschusspflicht sowie die Regelung der Neubemessung zwingend, § 191 VVG.
Ergänzt werden die gesetzlichen Regelungen durch den Versicherungsvertrag und die jeweils vereinbarten AUB. Hier gilt in besonderem Maße anhand des Versicherungsscheins zu prüfen, welche AUB und weitere Besondere Bedingungen und Risikobeschränkungen dem Versicherungsverhältnis konkret zugrunde liegen. So weichen beispielsweise die älteren AUB 61 (für Vertragsabschlüsse von 1961 bis 1988), welche an die Arbeitsfähigkeit des VN anknüpfen, in teilweise erheblichem Umfang von den neueren Bedingungswerken (AUB 88, AUB 99, AUB 2010/2008, AUB 2014) ab. Grundsätzlich gilt, dass die nachträgliche Einbeziehung neuer AUB einer Zustimmungserklärung des VN bedarf. Die bloße Übersendung neuer AUB bei ansonsten fortbestehendem Versicherungsverhältnis genügt dafür nicht.
Rz. 6
Zu beachten ist schließlich das im Bereich der privaten Unfallversicherung geltende Schadentagprinzip. Für die Abwicklung des Versicherungsfalls gelten unabhängig vom weiteren Vertragsschicksal (z.B. dynamische Erhöhungen) die am Schadentag vereinbarten Leistungen.
II. Der Unfallbegriff
1. Definition
Rz. 7
Der Unfallbegriff ist in § 178 Abs. 2 S. 1 VVG sowie Ziffer 1.3 AUB 2014 definiert. Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.
Das Element der Plötzlichkeit ist dem Verkehrs-Unfallereignis gleichsam immanent. Auch eine Einwirkung auf den Körper "von außen" wird bei einem Verkehrsunfall, der zu Verletzungsfolgen in Form der Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit (Gesundheitsschädigung) führt, regelmäßig anzunehmen sein.
Rz. 8
Besonderheiten können sich im Zusammenhang mit dem Element der "Unfreiwilligkeit" ergeben, wobei sich dieses Merkmal auf die durch das Ereignis bewirkte Gesundheitsschädigung beziehen muss. Unfreiwilligkeit liegt auch dann noch vor, wenn das Unfallereignis durch eigenes vorsätzliches Handeln herbeigeführt wurde, der versicherten Person jedoch die Gefährlichkeit des Tuns nicht bewusst war. Demgegenüber ist Freiwilligkeit anzunehmen, wenn die versicherte Person vorausgesehen hat, dass das Ereignis gesundheitsschädigenden Charakter hat und dies vom Willen des Geschädigten getragen wird. Praxisrelevant wird dies vor allem in den Fällen, in denen vom Versicherer ein Suizid der versicherten Person eingewandt wird. Zugunsten des VN greift die gesetzliche Vermutung des § 178 Abs. 2 S. 2 VVG, wonach bis zum Beweis des Gegenteils – Beweislast also beim VR – die Unfreiwilligkeit vermutet wird. Da kein Anscheinsbeweis möglich ist, muss der VR den Nachweis eines Suizids im Wege des Indizienbeweises führen, wobei eine umfassende Gesamtschau aller be- und entlastenden Umstände erforderlich ist.