Dr. Martin Feick, Lisa Hammes
Rz. 117
Nach § 2315 BGB muss sich der Pflichtteilsberechtigte lebzeitige Zuwendungen auf seinen Pflichtteil anrechnen lassen, wenn die Zuwendung von einer Erklärung des Übergebers begleitet war, dass die Zuwendung auf den eventuellen Pflichtteil angerechnet wird.
Beispiel
Beträgt der Pflichtteilsanspruch 100.000 EUR und wurden dem Pflichtteilsberechtigten zu Lebzeiten des Übergebers nach Indexierung 30.000 EUR mit der Maßgabe der Anrechnung zugewandt, so beträgt der tatsächliche Pflichtteilsanspruch nur 70.000 EUR.
Rz. 118
Zur wirtschaftlichen Vergleichbarkeit des Wertes der lebzeitigen Zuwendung im Todeszeitpunkt ist der Kaufkraftschwund des Geldes zu berücksichtigen, indem der Wert im Zeitpunkt der Schenkung auf die Zeit des Erbfalls umgerechnet wird. Hierzu wird der Wert der lebzeitigen Schenkung im Zeitpunkt der Zuwendung mit der Preisindexzahl der Lebenshaltung des Todesjahres multipliziert und durch die entsprechende Preisindexzahl für das Zuwendungsjahr dividiert. Sonstige nachträgliche Veränderungen, die den Wert des lebzeitig Zugewandten erhöhen, mindern oder ganz beseitigen, bleiben unberücksichtigt.
a) Abwägung
Rz. 119
Der Übergeber steht daher bei jeder Zuwendung an Abkömmlinge vor der Frage, ob die Zuwendung bei der Auseinandersetzung nach seinem Tod angerechnet werden soll oder nicht. Die Frage stellt sich nicht in voller Schärfe, wenn der Übergeber – was bei einer vernünftigen Nachfolge die Regel sein sollte – die Erbfolge durch letztwillige Verfügung regelt, denn er ist frei durch die zugewiesenen Erbquoten oder durch Vorausvermächtnisse den Wert der lebzeitigen Zuwendungen in der letztwilligen Verfügung zu berücksichtigen.
Praxishinweis
Wenn eine lebzeitige Zuwendung an einen Abkömmling getätigt wird, empfiehlt es sich jedoch dringend, nicht nur über die Anrechnung gemäß § 2050 BGB, sondern auch über die Anrechnung gemäß § 2315 BGB nachzudenken: Da ein Übergeber bei Vornahme der Zuwendung selten hinreichend genau weiß, wie sich das Verhältnis zwischen ihm und dem Abkömmling weiterentwickelt, ist dringend zu empfehlen, bei jeder Zuwendung auch die Anrechnung der Zuwendung auf den Pflichtteil anzuordnen. Sollte das Kind nicht enterbt werden oder aus anderen Gründen seinen Pflichtteil erhalten, spielt die Klausel keine Rolle. Wird das Kind jedoch enterbt oder schlägt es aus und kann – ausnahmsweise – einen Pflichtteil verlangen (vgl. § 2306 BGB), muss es sich den Wert der Zuwendung auf den Pflichtteil anrechnen lassen.
b) Pflichtteilsergänzungsanspruch und Anrechnung nach § 2327 BGB
Rz. 120
Nicht selten entbrennt unter Geschwistern nach dem Erbfall aufgrund Zuwendungen im Zuge der vorweggenommenen Erbfolge Streit darüber, ob Pflichtteilsergänzungsansprüche aufgrund dieser Zuwendungen gemäß §§ 2325 ff. BGB bestehen. Bekanntlich wird gemäß § 2325 BGB der Wert der Schenkungen, die in den letzten zehn Jahren vor dem Erbfall vorgenommen wurden, dem Nachlasswert zugerechnet, wobei seit dem 1.1.2010 gemäß § 2325 Abs. 3 BGB mit jedem zwischen Schenkung und Erbfall vergangenen Jahr der zu berücksichtigende Wert des Schenkungsgegenstands um 1/10 geringer wird (“so genannte "Abschmelzungslösung"). Als Ergänzungsanspruch zum Pflichtteil kann der Pflichtteilsberechtigte den Betrag verlangen, um den sich der Pflichtteil bei fiktiver Hinzurechnung des Wertes der weggeschenkten Gegenstände erhöht. Seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 23.5.2012 ist geklärt, dass die Pflichtteilsberechtigung nicht bereits im Zeitpunkt der Schenkung bestanden haben muss. Den Pflichtteilsergänzungsanspruch kann aber nicht nur ein Pflichtteilsberechtigter stellen, der völlig enterbt ist, sondern gemäß § 2326 BGB auch der pflichtteilsberechtigte Erbe.
Beispiel
Die Übergeberin hinterlässt ihren mit ihr in Zugewinngemeinschaft lebenden Ehemann und eine Tochter. Der Ehemann ist zu ¾ als Erbe eingesetzt, die Tochter (i.H.d. Pflichtteils) zu ¼. Vor dem Tod hat die Übergeberin ihrem Gatten Geschäftsanteile an einer GmbH im Wert von 500.000 EUR geschenkt. Der Nachlasswert beträgt eine Mio. EUR. Der Wert der Erbschaft der Tochter beträgt somit 250.000 EUR. Wird allerdings der Wert der Schenkung dem Nachlass zugerechnet, so ergibt sich ein Nachlasswert von 1,5 Mio. EUR und ein fiktiver Wert des Pflichtteils der Tochter (¼) von 375.000 EUR. Die Tochter kann daher als Pflichtteilsergänzung 125.000 EUR verlangen.
Rz. 121
Häufig wird aber in diesem Zusammenhang die Regelung des § 2327 BGB übersehen. Hat der Gläubiger des Pflichtteilsanspruchs – hier im Fall die Tochter – selbst eine Schenkung vom Übergeber erhalten, so ist diese Schenkung auf den Ergänzungsanspruch anzurechnen. Dabei, und dass ist das...