Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 42
Der Genehmigungsvorbehalt des § 1829 BGB (§ 1904 BGB a.F.) greift nur dann, wenn vorgenannte Maßnahmen mit einer qualifizierten Gefahrensituation verbunden sind. Dazu muss eine objektive, ernstliche und konkrete Gefahrenlage bestehen, die wahrscheinlich und mit gravierender Folge eintreten wird.
Rz. 43
Zu den qualifizierten Gefahrensituationen gehört die Todesgefahr.
Der Gesetzgeber hat sich in § 1829 BGB (§ 1904 BGB a.F.) außerdem für das Tatbestandsmerkmal schwerer und länger dauernder gesundheitlicher Schaden und gegen eine Aufzählung gefährlicher Behandlungen und insbesondere gegen eine Aufzählung genehmigungspflichtiger Medikamente entschieden. Die Rechtsprechung stellt bei der Prüfung des "schwerer und länger andauernden Schadens" darauf ab, ob
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die konkrete Behandlung gravierende Nebenwirkungen nur während der Behandlung zeitigt und |
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keine Spätfolgen verursacht oder |
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ob von dauerhaften Nebenwirkungen bzw. Schäden auszugehen ist. |
Die Folgen sollen danach bemessen werden, in welcher Weise die Betroffenen in ihrer Lebensweise durch die Behandlung im Vergleich zu gesunden Menschen beeinträchtigt werden. Maßnahmen, bei denen der Verlust des Seh-, Gehör-, Fortpflanzungsvermögens oder eines wichtigen Körpergliedes oder eine dauerhafte erhebliche Entstellung, Siechtum, Lähmung, geistige Krankheit oder Behinderung droht, sollen nach dem Willen des Gesetzgebers darunter fallen. Aber es kommt nicht nur auf körperliche Funktionsbeeinträchtigungen an. Schwerwiegende Nebenwirkungen von Medikamenten und schwere psychische Beeinträchtigungen können von Bedeutung sein.
Rz. 44
Man kann in der anwaltlichen Beratung selbstverständlich nicht jede Situation erläutern. Aber nachfolgend sind Beispiele aufgelistet, von denen einzelne für die Beratung herausgegriffen werden können bzw. die für die anwaltliche Rechtsvertretung von erheblicher Bedeutung sein können.
Rz. 45
Bei der Beurteilung der Gefahren muss unterstellt werden, dass die Maßnahmen sachgemäß durchgeführt werden. Die labile Gesundheit alter und gebrechlicher bzw. aus anderen Gründen vulnerabler Patienten muss berücksichtigt werden. Das kann z.B. bei einer Narkose von Bedeutung sein.
Rz. 46
Als genehmigungspflichtige Untersuchungen werden in Literatur und Rechtsprechung genannt:
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Pneumencephalographie |
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Leberblindpunktion |
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Bronchoskopie |
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Herzkatheterisierung |
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Liquorentnahme aus Gehirn oder Rückenmark |
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Angiographie |
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sowie bei alten bzw. gebrechlichen Menschen je nach Einzelfall die Arthroskopie. |
Die Fortschritte in der Durchführung von medizinischen Maßnahmen muss bei der Verwendung älterer Entscheidungen allerdings ins Kalkül gezogen werden. So wird die Liquorentnahme heute als eine Untersuchung beschrieben, die keine besonderen Risiken oder Komplikationen birgt, aber bei Entzündung, erhöhtem Hirndruck oder gestörter Blutgerinnung problematisch sei.
Rz. 47
Von den operativen Behandlungsmaßnahmen werden fast alle Amputationen als genehmigungspflichtige "Heilbehandlungen" angesehen. Der Verlust eines Körpergliedes wird als dauernder schwerer gesundheitlicher Schaden im Sinne von § 1829 BGB (§ 1904 BGB a.F.) angesehen. Das gilt auch für Operationen, die zu Lähmungen führen können (Rückenmarks- und Bandscheibenoperationen), bzw. solche, die die Bewegungsfähigkeit erheblich einschränken können (z.B. Knochenverkürzungen). In den Anwendungsbereich ärztlicher operativer Heilbehandlung fallen ohne weiteres auch:
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Herzoperationen |
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Transplantationen von Fremdorganen mit Ausnahme von Hornhauttransplantationen |
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Operationen am Gehirn und Rückenmark |
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Herz-/Lungen-Operationen am offenen Brustkorb. |
Rz. 48
Zu den nichtoperativen Behandlungsmethoden, die dem Einwilligungsvorbehalt des § 1829 BGB (§ 1904 BGB a.F.) unterfallen können, gehören
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Chemotherapie |
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Strahlenbehandlungen |
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Dauerkatheterisierung der Harnblase. |
In der betreuungsrechtlichen Literatur wird insbesondere das Genehmigungserfordernis bei der Behandlung von Schizophrenien und endogenen Psychosen mittels Elektrokrampftherapie streitig diskutiert.
Unter den Genehmigungsvorbehalt des § 1829 Abs. 2 BGB (§ 1904 BGB a.F.) fällt auch die Verweigerung der Einwilligung in den Batteriewechsel eines Herzschrittmachers oder die Ablehnung einer Maßnahme der künstlichen Ernährung.
Rz. 49
Auch die Behandlung mit Medikamenten je nach Art, Verwendungszweck, Menge und Nebenwirkungen können dem Genehmigungsvorbehalt des § 1829 BGB (§ 1904 BGB a.F.) unterfallen. Grundsätzlich ist es auch bedeutsam zu wissen, dass bei der Behandlung alter Menschen mit Medikamenten eine besondere Gefahrenlage besteht. Ärzte beschreiben "jede Arzneimitteltherapie Älterer als ein Individualexperiment"“ bzw. als einen "Hochrisikoprozess“, weil die medikamentöse Therapie im Alter von diversen Besonderheiten geprägt wird und Pharmakokinetik und Pharmakodynamik bei alten Menschen verändert sind."
Schreiber hat 1991 unabhängig von der Gefahrenlager "Alter"...