a)1. Fall - Verzicht auf Vorrecht
Rz. 95
Einem Kraftfahrer wird vorgeworfen, an einem Zebrastreifen den Vorrang eines Fußgängers nicht beachtet zu haben.
Nun kann ein Fußgänger - wie andere Verkehrsteilnehmer auch - zwar auf sein Vorrecht verzichten. Ohne eine entsprechende Behauptung hat der Richter jedoch keinerlei Veranlassung, eine solche Situation in seine Überlegungen mit einzubeziehen. Hierzu kann ihn nur ein entsprechender Vortrag zwingen.
Da der Verteidiger selbst weder eigenes Erlebniswissen vortragen noch die Behauptung mit einem Beweisangebot in die Hauptverhandlung einführen kann, muss sich der Betroffene äußern.
b)2. Fall - Technische Ursache
Rz. 96
Die gleiche Situation entsteht, wenn ein technischer Mangel behauptet werden soll, das Fahrzeug aber nicht mehr von einem Sachverständigen besichtigt werden kann, z.B. weil es schon verschrottet ist:
Ein Kraftfahrer gerät beim Überholen eines kurz zuvor aus einem geschotterten Feldweg auf die Hauptstraße einfahrenden Traktors von der Fahrbahn ab. Dabei kommt sein Beifahrer zu Tode.
Der Grund für das Abkommen von der Fahrbahn soll die Tatsache gewesen sein, dass der Angeklagte nichts mehr sehen konnte, nachdem ein vom Traktor hochgeschleuderter Stein die Windschutzscheibe des Fahrzeuges blind geschlagen hatte.
Rz. 97
Ohne die entsprechende Behauptung wird sich das Gericht nicht mit einem derartigen Geschehensablauf beschäftigen, an eine so atypische Unfallursache wird es nicht einmal denken. In einer solchen Prozesssituation muss deshalb die Verteidigung mit einem entsprechenden Tatsachenvortrag zu diesem Punkt hinführen.
Rz. 98
Das Fahrzeug ist verschrottet und kann nicht mehr besichtigt werden. In dieser Lage wäre eine vom Verteidiger ohne Beweisangebot vorgetragene Behauptung nichts wert. Daher kann nur eine vom Angeklagten selbst aufgestellte Behauptung das Gericht zur Prüfung der entsprechenden Frage zwingen.
Rz. 99
Achtung
Allerdings muss sich die Verteidigung darüber im Klaren sein, dass es sich dabei um eine Teileinlassung mit allen sich daraus ergebenden nachteiligen Konsequenzen (siehe oben Rdn 45-51) handelt.
c) Taktik: Alternative
Rz. 100
Traut der Verteidiger seinem Mandanten nicht zu, eine Befragung durch das Gericht durchzustehen, ohne entscheidende Fehler zu machen, bietet sich folgende Lösung an:
Rz. 101
Der Beschuldigte stellt in einer im Vorverfahren eingereichten schriftlichen Erklärung eine entsprechende Behauptung auf und schweigt anschließend. Dann muss das Gericht - hierzu nötigt es spätestens der Antrag der Verteidigung - die schriftliche Erklärung durch Verlesung in die Hauptverhandlung einführen und sich mit ihr beschäftigen (OLG Zweibrücken StV 1986, 290).
Rz. 102
Eine Teileinlassung mit den bekannten nachteiligen Folgen stellt dies nicht dar, wenn auch zuzugeben ist, dass i.d.R. die Glaubwürdigkeit des Angeklagten nicht die gleiche ist, wie wenn er in der Hauptverhandlung Rede und Antwort steht.
Rz. 103
Ansonsten ist es besser, wenn der Angeklagte schweigt, solange eine Erklärung von ihm für die Verteidigung nicht zwingend notwendig ist. Dies gilt z.B. erst recht, wenn ein vom Gericht eingeholtes Sachverständigengutachten mehrere Geschehensabläufe - darunter auch eine dem Angeklagten günstige Variante - als gleichermaßen wahrscheinlich ansieht.
Rz. 104
Nicht selten nehmen Verteidiger bei einer solchen Konstellation an, der Angeklagte könne sich auf die ihm günstige Variante nur berufen, wenn er die dort unterstellten Fakten behaupte, wo doch in Wahrheit das ungefährlichere Schweigen ausgereicht hätte.
Rz. 105
Tipp: Erklärung des Verteidigers
Erfahrungsgemäß haben Angeklagte Hemmungen, dem Richter nach der Belehrung "ins Gesicht" zu sagen, sie würden keine Angaben machen. Trotz aller Belehrungen fürchten sie nach wie vor, ihr Schweigen sei ein Schuldeingeständnis.
Aus dieser schwierigen Situation hilft der Verteidiger dem Angeklagten dadurch, dass er die Verantwortung für die Entscheidung auf sich nimmt und etwa erklärt: "Ich habe meinem Mandanten geraten, keine Angaben zu machen."