A. Beistand eines Verteidigers
Rz. 1
Achtung
Der einer Straftat Beschuldigte hat das Recht, vor seiner Vernehmung einen Verteidiger zu befragen. Darüber ist er ausdrücklich zu belehren.
Bringt der Beschuldigte vor Beginn der polizeilichen Vernehmung seinen Wunsch nach anwaltschaftlichem Beistand zum Ausdruck, so haben die Vernehmungsbeamten ernsthafte Bemühungen zu entfalten und dem Beschuldigten bei der Herstellung des Kontaktes in effektiver Weise zu helfen. Andernfalls kann ein Verwertungsverbot für die ohne einen Verteidiger gemachten Angaben bestehen (BGH StraFo 1996, 81; BGH NJW 2007, 2706). Für das Bußgeldverfahren schließt § 55 Abs. 2 OWiG eine solche Belehrungspflicht allerdings ausdrücklich aus.
B. Einlassung bei der Polizei
I. Der Ladung nicht Folge leisten
Rz. 2
Der Verteidiger wird dem Mandanten grundsätzlich davon abraten, bei der Polizei Angaben zu machen. Am besten rät er ihm schon bei der Mandatsannahme davon ab, einer eventuellen Ladung durch die Polizei überhaupt erst Folge zu leisten. Ob der Mandant dann sein Nichterscheinen telefonisch ankündigt, ist alleine eine Frage der Höflichkeit, nachteilige Folgen hat sein Fernbleiben jedenfalls nicht.
Achtung: Ausnahme bei Ladung durch den Staatsanwalt
Auf eine richterliche oder staatsanwaltschaftliche Vorladung (auch zur Vernehmung bei der Polizei) muss der Betroffene ebenso erscheinen, wie auf eine der Bußgeldbehörden (§ 163a Abs. 3 S. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG), wobei allerdings der Bußgeldbehörde selbst Zwangsmittel gegen einen nicht erscheinenden Betroffenen nicht zur Verfügung stehen (§ 46 Abs. 5 OWiG). Hat sich für den Betroffenen bereits ein Verteidiger bestellt, ist dieser über den Vernehmungstermin in Kenntnis zu setzen (§ 163a Abs. 3 i.V.m. § 168c Abs. 5 S. 1, 2 StPO).
Andernfalls muss er über sein Recht auf Hinzuziehung eines Verteidigers belehrt werden (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO).
Ist dies unterblieben, stellt sich die Frage eines Verwertungsverbotes der von dem Betroffenen in der Vernehmung gemachten Angaben.
II. Tipp: Hinweis im Bestellungsschreiben
Rz. 3
Polizeibeamte und Verkehrsstaatsanwälte nehmen von Ladungen oder Vernehmungsversuchen meist dann Abstand, wenn der Anwalt bereits im Bestellungsschreiben darauf hingewiesen hat, dass eine eventuelle Einlassung nur über den Verteidiger erfolgt und die Entscheidung, ob sich der Beschuldigte überhaupt äußert, erst nach Akteneinsicht getroffen wird.
C. Grundsatz: Vor Akteneinsicht keine Stellungnahme
I. Ausnahme nur in Eilfällen
Rz. 4
Erfahrungsgemäß drängen Beschuldigte ihren Anwalt zu möglichst schnellem Handeln. Nach ihrer Auffassung sollte gegenüber der Ermittlungsbehörde sofort eine Stellungnahme abgegeben werden. Ein Verteidiger, der - einem solchen Drängen nachgebend - ohne Aktenkenntnis eine Stellungnahme zu den Akten reichte, beginge einen groben "Kunstfehler", sieht man einmal von Fällen notwendiger Eilmaßnahmen (z.B. bei einem vorläufigen Fahrerlaubnisentzug) ab.
II. Exkurs: Akteneinsicht
Rz. 5
Tipp
Akteneinsicht ist nicht von Amts wegen, sondern nur auf Antrag hin zu gewähren. Es ist deshalb ratsam, mit dem Bestellungsschriftsatz den Antrag auf Akteneinsicht zu verbinden.
1. Nur mit schriftlicher Vollmacht?
Rz. 6
Häufig wird von den Verwaltungsbehörden oder den Amtsgerichten Akteneinsicht mit der Begründung verweigert, es läge keine schriftliche Vollmacht vor. Das Bundesverfassungsgericht (AnwBl 2012, 217) - hat jedoch mit der herrschenden Rechtsprechung der Instanzgerichte darauf hingewiesen, dass eine Vollmachtsurkunde nur bei berechtigten Zweifeln an der Verteidigerbestellung verlangt werden darf. Jedenfalls kann die Akteneinsicht nicht mit der bloßen Begründung, die schriftliche Vollmacht liege nicht vor, verweigert werden.
2. Zeitpunkt
Rz. 7
Dem Verteidiger muss umfassende Akteneinsicht gewährt werden. Dies gilt auch in Bußgeldsachen (OLG Celle DAR 2012, 217; KG DAR 2013, 211). Sind nach der Akteneinsicht des Verteidigers weitere Beweismittel zu den Akten gelangt, muss das Gericht die Verteidigung hierauf ausdrücklich hinweisen (BGH StV 2001, 4; NZV 2017, 549).
Rz. 8
Im Übrigen ist es vorrangig Sache des Verteidigers zu entscheiden, wann er (außerhalb der Hauptverhandlung) eine Akteneinsicht für notwendig hält. Auch auf einen wiederholten Antrag hin muss ihm Akteneinsicht gewährt werden. Wird ihm dies versagt, kann dies die Ablehnung des erkennenden Richters wegen Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen (OLG Zweibrücken StraFo 1997, 17).
3. Umfang
Rz. 9
Zu den Akten gehören alle verfahrensbezogenen Unterlagen, d.h. alle Ermittlungsvorgänge. Die Oberlandesgerichte Celle (zfs 2013, 608) und Düsseldorf (NZV 2016, 146) sind unter Hinweis auf den von ihnen vertretenen "formellen" Aktenbegriff der Auffassung, dass sich das Einsichtsrecht der Verteidigung nur auf den aktuellen Akteninhalt beschränke und keine Verpflichtung bestehe, andernorts verwahrte Beweismittel zu den Akten zu nehmen.
Nach zutreffender Auffassung besteht bereits als Ausfluss des fairen Verfahrens ein Anspruch darauf, dass sämtliche verfahrensrelevante Unterlagen zu den Akten genommen und so dem Einsichtsrecht der Verteidigung unterworfen werden (KG zfs 2013, 410; OLG Oldenburg zfs 2017, 469; OLG Karlsruhe DAR 2019, 582). Hierzu gehören z.B. - neben etwaigen Bild- oder Videoaufnahmen - die Lebensakte (OLG Sa...