Rz. 72
Was landläufig unter dem Begriff "Inhaltskontrolle" zusammengefasst wird, sollte differenziert betrachtet werden. Schließlich kommen zur nachträglichen Beseitigung von "Ungerechtigkeiten" nicht nur § 138 BGB und § 242 BGB, sondern auch das Instrument der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) und die Anfechtung (siehe Rdn 62) in Betracht.
Die Verbindung des Erb- oder Pflichtteilsverzichts mit einem gem. § 138 BGB nichtigen Ehevertrag kann zur Gesamtnichtigkeit führen, wenn nicht ein anderer Parteiwille aus der Vereinbarung zu entnehmen ist. Dies ist in erster Linie auf § 139 BGB zurückzuführen und kann für die Diskussion um die Inhaltskontrolle bei Erb- und Pflichtteilsverzichten eher Hinweise liefern.
Einige Fälle werden durch eine Anfechtung zu lösen sein. Wird ein Verzichtender über die Höhe des Vermögens getäuscht, sodass er eine zu geringe Gegenleistung fordert und erhält, kann eine Anfechtung nach § 123 BGB greifen. Zwar ist eine Anfechtung nicht mehr notwendig, wenn der Vertrag schon nach § 138 BGB nichtig ist. Trotzdem sollte die grundsätzliche Möglichkeit der Anfechtung zeigen, dass der Rückgriff auf § 138 BGB nicht als "Ersatz" für eine eventuell nicht durchsetzbare Anfechtung herhalten sollte.
Eine Kontrolle nach § 138 BGB muss nach hier vertretener Ansicht außerdem möglich sein. Der Schutz des strukturell Unterlegenen ist dem deutschen Recht immanent. Insbesondere bei persönlich und/oder finanziell von ihren Eltern abhängigen und u.U. zudem jungen Kindern kann ein solches Ungleichgewicht bei dem Verzicht vorliegen (eventuell in dem obigen Beispiel des beschenkten Kindes). Die persönliche Abhängigkeit kann sich aus der familiären und sonstigen sozialen Bindung ergeben ("Der Vater bestimmt."). Wirtschaftlich abhängig sind insbesondere finanzielle Unterstützung erhaltende Kinder. Selbstverständlich sind bei der Beurteilung strenge Maßstäbe anzulegen.
Rz. 73
Ändern sich die Verhältnisse später erheblich, kommt in seltenen Fällen auch nach den Stimmen, die eine Inhaltskontrolle eher ablehnen, nach § 313 BGB oder § 242 BGB eine Anpassung der Vereinbarung oder eine Ausübungskontrolle in Betracht. Dass es sich hier nur um Ausnahmen handeln wird, ergibt sich aus dem Zweck und dem Charakter des Erb- bzw. Pflichtteilsverzichts sowie dem Grundsatz der Selbstbestimmung und Vertragsfreiheit. Zweck des Verzichts für den potentiellen Erblasser ist es, seine volle Testierfreiheit wiederzuerlangen. Dies ist sonst fast nicht möglich. Dieses Ziel wurde vom Gesetzgeber gebilligt, indem er den Pflichtteilsverzicht zuließ, und muss auch mit weitgehender Rechtssicherheit erreichbar sein.
Rz. 74
Vom Charakter her ist der Pflichtteilsverzicht ein Risikogeschäft. Spätere Veränderungen im Vermögen des Erblassers können für den Verzichtenden vorteilhaft oder nachteilig sein. Das sollte den Beteiligten bewusst sein. Schließlich kann der Verzichtende selbst entscheiden, ob er einen solchen Vertrag abschließt. Eine grundsätzliche Aufklärung vorausgesetzt – wie sie bei der notariellen Beurkundung gewährleistet sein sollte – darf der Verzichtende Gegenleistungen nach seinen Vorstellungen verlangen und auf bestimmte Klauseln bestehen. In Betracht kommen bspw. Anpassungsklauseln und Bedingungen. Ist der Beweggrund des Verzichtenden etwa der Erhalt des Familienunternehmens, kann er sich für den Fall des späteren Verkaufs eine Nachzahlung oder ein Vetorecht zusichern lassen. Aufgrund der dem bürgerlichen Recht innewohnenden Selbstbestimmung kann ein Verzichtender aber auch auf solche Rechte und ebenfalls auf eine fachgerechte, unabhängige Beratung über sie verzichten. Wurde er dabei übervorteilt, ist dies dann aber kein Fall der Ausübungskontrolle, sondern der Anfechtung und/oder Sittenwidrigkeit.
In der Rechtsprechung und ihr teilweise folgenden Literatur sind allerdings Tendenzen zu vermerken, eine umfassende Aufklärung des Verzichtenden zu fordern. Dieser Weg kann so weit mitgegangen werden, wenn eine umfassende und verständliche (notarielle) Aufklärung über die Folgen des Verzichtes, insbesondere eines ohne Gegenleistung, gefordert wird. Eine Aufklärung durch den Erblasser in der Form, dass er seine Vermögenverhältnisse offenlegen muss, um eine Sittenwidrigkeit zu vermeiden, ist abzulehnen. Soweit Auskünfte gegeben werden, müssen diese natürlich richtig und nicht täuschend sein. Wenn der Erblasser aber keine falschen Vorstellungen beim Verzichtenden hervorruft, muss es diesem überlassen sein, sich mit ggf. wenigen Informationen zufrieden zu geben oder auch nicht. Eine Nachlässigkeit des Verzichtenden insoweit dann ggf. Jahre später durch die Gerichte reparieren zu lassen, entspricht nicht den Grundsätzen der Vertragsfreiheit.